Dornenkuss - Roman
vor oder nach der Pause. Trotzdem hatte ich anschließend meine Jacke nicht mehr ausziehen wollen. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, mich zu necken oder bewusst anzurempeln. Er hatte mich ja gar nicht gesehen.
»Nicht nur schwieriger, sondern auch persönlicher.«
»Ganz ehrlich, Ellie, ich glaube nicht, dass das möglich ist. Aber du kannst es gerne versuchen«, witzelte Angelo.
»Gut, ich versuche es. Wie bist du verwandelt worden? Und war es nicht furchtbar? Wer war es, weißt du das? Und ist es ein Zufall, dass du zwanzig warst? Colin war nämlich auch zwanzig und …« Angelos erhobene Hand bremste mich. Okay, zu viele Fragen auf einmal, mein alter Fehler. Wenn ich anfing, konnte ich nicht mehr damit aufhören. Ich bombardierte meine Mitmenschen. Immerhin wirkte Angelo nicht so, als würden meine Fragen zu weit gehen. Er lehnte sich wie ich zurück, schaute aber nicht in die Ferne, sondern blieb mit seinen Augen bei mir.
»Es war gar nicht furchtbar. Keine Schmerzen, keine Angst, sondern die Gewissheit, dass etwas Neues beginnt, das mir uneingeschränkte Freiheit schenkt. Ich wollte es ja. Und nein, es ist wohl kein Zufall, dass viele Menschen im Alter von zwanzig Jahren verwandelt werden. Es ist eine besondere Lebensphase – meistens steht man in seiner Blüte und der Ernst des Lebens hat noch nicht begonnen, zumindest ist es heute so. Trotzdem bekommt das Dasein langsam Verantwortung und feste Strukturen; es zeichnet sich ab, was später Alltag sein wird. Die Leute studieren oder haben ihre Ausbildung abgeschlossen, steigen ins Berufsleben ein. Von da an wird es Schritt für Schritt immer komplizierter und beschwerlicher. So wäre es jedenfalls für mich gewesen.«
»Also hast du dich gedrückt. Du hast es gewollt, ist das wahr?«, fragte ich nach, weil ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
»Ja. Ja, und von mir aus habe ich mich gedrückt, wenn du das so bezeichnen willst. Du hast nicht zufällig preußische Vorfahren, oder?«
Mein ertapptes Schweigen war Antwort genug. Er hatte ins Schwarze getroffen. Papas Vorfahren stammten aus Pommern, früher preußisches Hoheitsgebiet, und die preußisch-protestantische Geisteshaltung frei nach dem Motto »Was nicht tötet, macht hart, aber bitte immer in geometrischen Mustern« hatte auch auf Papa abgefärbt. Kein Utensil auf seinem Schreibtisch, das nicht seinen festen Platz hatte. Und er hatte uns immer eingebläut, unsere Pflichten zu erfüllen, pünktlich und ordentlich und mit angemessenem Ernst – etwas, was ganz und gar nicht zu seiner fast heldenhaften Abenteuerlust passte.
»Ich stamme aus einer anderen Zeit als du, Ellie. Neunzehntes Jahrhundert, römische Oberschicht. Eine wohlhabende Familie, in der die Karrieren der Kinder vorbestimmt waren. Ja, sie haben mir Klavierunterricht ermöglicht, schließlich sollten die schönen Künste nicht zu kurz kommen. Aber es stand außer Frage, dass ich eine andere berufliche Laufbahn einschlagen würde – nämlich die, die allen Söhnen vorbehalten war: Militär, Studium, juristische Karriere. Meine Eltern waren gut zu mir, wenig Schläge, viele Privilegien, wir mussten nie hungern, bekamen eine hervorragende Ausbildung. Ich will mich nicht beklagen! Aber ich wollte nicht zum Militär und ich wollte nicht in den Krieg. Genauso wenig wollte ich meine Eltern enttäuschen, indem ich mich diesem Weg verweigerte.«
»Das verstehe ich nicht …« Ich hatte mit Spannung zugehört, doch die Pointe verwirrte mich. »Wenn du dich deshalb hast verwandeln lassen, dann hast du dich diesem Weg doch verweigert.«
»Nein, habe ich nicht. Ich bin zum Militär gegangen, musste in den Krieg ziehen …« Angelos Gesicht verfinsterte sich. Nun war er es, der gegen schlechte Erinnerungen anzukämpfen versuchte. »Und bin gefallen. Offiziell.«
»Offiziell. Du hast dich verwandeln lassen, weil du schwer verletzt warst und dachtest, du müsstest sterben? War es das?«
»Nein. Ich bin nur angeschossen worden, nicht lebensbedrohlich, aber abseits der Truppe, und da lag ich nun und wusste nicht, was geschehen würde, und sehnte mich so sehr nach einem anderen, freieren Leben. Ich hasste das Militär, dieses blinde Unterordnen und Nachplappern und die Notwendigkeit, auf völlig unbekannte Menschen zu schießen, nur weil es dir jemand befahl, dem du nicht einmal den Dreck unter dem Fingernagel wert warst. Und dann war da noch die Musik … Weißt du, was mich als Kind immer am meisten deprimiert
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