Dornenkuss - Roman
hat und als Jugendlicher erst recht?«
Ich schüttelte den Kopf – nicht, weil ich es nicht wusste, sondern weil ich mir Angelo nicht im Gefecht vorstellen konnte, in Militäruniform und schweren Stiefeln und dem Gewehr in der Hand, bereit, auf andere zu zielen und sie abzuknallen.
»Dass ich nie die Zeit haben würde, all die Musik zu hören, zu spielen und zu entdecken, die mir die Welt bot. Damals gab es noch keine MP3-Sticks, auf denen du Hunderte von Songs und Stücken abspeichern konntest. Das Grammofon wurde nur angeworfen, wenn bei uns im Haus ein Ball oder ein militärischer Empfang stattfand. Mein Vater war der Meinung, dass Musik die Sinne vernebelt. Ich wusste, dass es überall wunderschöne Musik gab und immer geben würde, aber ich würde irgendwann sterben und hätte nur einen Bruchteil von ihr hören und spielen dürfen. Selbst wenn ich eine Laufbahn als Pianist hätte einschlagen dürfen – die Zeit hätte niemals ausgereicht. Kein Menschenleben kann dafür reichen, selbst wenn man jede Minute der Musik widmen würde.«
»Und der Mahr hatte diesen Wunsch gespürt, oder?«
Angelo sah mich mit einer Ernsthaftigkeit an, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich wagte kaum zu atmen, weil ich fürchtete, es würde den Ausdruck in seinem Gesicht verändern. Ich wollte noch ein paar Sekunden darin eintauchen.
»Ja. Ja, sie hat ihn gespürt und mir gegeben, wonach ich mich unbewusst sehnte. Ich fand es aufregend und ich wusste, dass mir etwas passierte, was mein Dasein radikal verändern würde, und so habe ich mich nicht dagegen gesperrt, weil mir alles besser erschien, als weiter durch den Dreck zu robben und zu morden.«
»Es war also eine Sie?«
Angelo zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl oft so. Eine Sie verwandelt einen Er. Scheint spannender zu sein. Ich weiß es nicht, ich habe noch nie einen Menschen verwandelt und habe es auch nicht vor.«
»Warum nicht?« Ich zwang mich, Luft zu holen. Selten waren die Trennwände zwischen der Welt der Mahre und meiner so dünn gewesen. Ich wollte alles über sie erfahren.
»Ich habe die Richtige noch nicht gefunden«, gestand Angelo nach einer besonnenen Pause. »Ich möchte, dass es freiwillig geschieht, wie bei mir. Alles andere ist Mist.«
Alles andere ist Mist. Ich musste grinsen. Während Angelo von früher erzählt hatte, hatte er älter auf mich gewirkt als bei unseren bisherigen Begegnungen – reifer und erfahrener. Jetzt hatte er seinen Schwerenötercharme wiedergewonnen. Ja, alles andere war Mist. Sein Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück, als er mein Schmunzeln bemerkte.
»Jetzt hast du mir aber immer noch nicht verraten, was in dir vorgeht, Ellie«, erinnerte er mich.
»Hab ich nicht?«, fragte ich unschuldig. »Hab ich wohl.«
»Nein, du hast Fragen gestellt, aber von dir hast du nichts erzählt. Warum warst du vorhin auf einmal so traurig?«
»Weil … ach … schwer zu erklären«, druckste ich herum. Doch dann entschied ich mich, es auszusprechen, wie es war. Vielleicht half es ja. »Colin hält nicht viel vom ewigen Leben. Er würde gerne sterben.«
»Wie bitte?« Angelo beugte sich ungläubig vor, als habe er sich verhört. »Machst du Witze?«
»Nein. Nein, es ist so. Er möchte, dass es irgendwann ein Ende hat.« Weiter wollte ich meine Erklärungen nicht fortführen; der Rest ging Angelo nichts an und vor allem wollte ich nicht schon wieder darüber nachdenken und schlussendlich scheitern. Viel zu spät fiel mir ein, was ich eben womöglich angerichtet hatte. Wenn Angelo wusste, dass Colin sterben wollte, dann …
»Du bringst ihn jetzt aber nicht um, oder?« Ich wollte aufspringen und mich drohend aufbauen, doch eine lähmende Schwäche legte sich über meine Beine. »Angelo, bitte, töte ihn nicht …«
»Oh Mann, Ellie. Für wen hältst du mich eigentlich? Ich habe kein Interesse daran, ihm etwas zu tun. Warum sollte ich das denn machen?«
»Weiß nicht«, nuschelte ich.
»Selbst wenn, ich mag die Ewigkeit und setze sie bestimmt nicht aufs Spiel. Gegen Colin hätte ich niemals eine Chance. Ich weiß, er ist ein bisschen jünger als ich, aber er ist ein Cambion!« Angelo atmete hörbar aus, nach wie vor überrascht von dem, was ich eben gesagt hatte. »Auch mit fünfzig Jahren Vorsprung würde ich das nicht wagen. Die macht er locker wett. Ich begreife nur nicht, warum er sterben will. Oder, Moment …« Angelo stockte. »Vielleicht begreife ich es doch«, sagte er wie zu sich selbst.
Ich befeuchtete mit
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