Dornenkuss - Roman
lange nachdem die Melodie verklungen war. Irgendwann musste auch er rauben.
»Ich bin nicht süß.«
»Da magst du recht haben. Es tut mir leid, ich kann mich an das ›Ellie‹ nicht gewöhnen und an deine anderen Namen auch nicht. Sie sind zu mädchenhaft für dich. Du bist kein Mädchen mehr.«
»Aber süß bin ich auch nicht«, beharrte ich, obwohl ich jetzt schon bereute, ihm diesen Kosenamen verboten zu haben. Ich lehnte ihn normalerweise kategorisch ab, aber wenn er ihn aussprach, löste es eine kaum spürbare Gänsehaut zwischen meinen Schultern aus.
»Wie soll ich dich nur nennen?«, überlegte Angelo halblaut und musterte mich, ein zurückhaltendes Liebkosen meiner Gestalt, deren Schatten gezackt und zerrissen auf dem Steinengel lag und seinen Schopf verdunkelte. Wir starben nach wenigen Jahren, unsere Namen waren oft verkehrt und meist Schall und Rauch. Die Ewigkeit aber war zu lang für einen falschen Namen. Er hatte seinen bereits gefunden. Was war mit meinem?
»Gute Nacht, Betty Blue.«
Betty Blue … Betty … Ich drehte mich um und lief durch das offene Tor, dann rannte ich, bis ich meine Schritte auf der Piano dell’Erba wieder mäßigte, weil ich den Heimweg genießen wollte, so kurz er auch war.
Betty Blue? Hatte er es erfunden oder war es eine bekannte Figur, die so hieß? Betty Blue klang erwachsen, wehmütig und verspielt zugleich. Es kam mir vor, als habe ich diesen Namen schon einmal gelesen oder gehört. Doch ich konnte nicht zuordnen, wo.
Viel wichtiger war, was Angelo erzählt hatte. Eigentlich ist alles klar und einfach, dachte ich. Es lag auf der Hand: Colin musste Menschen berauben. Wenn er das tat, würde er ein Leben führen können wie Angelo. Entspannt, satt und leichten Herzens. Wir beide konnten das tun.
In unser Haus war endlich Ruhe eingekehrt. Es roch durchdringend nach Pferdemist, der im Regen feucht geworden war; vermutlich war keine Zeit mehr geblieben, ihn zu entsorgen. Ich nahm den Hintereingang. Von Colin und Louis keine Spur, doch Gianna saß noch in der Küche, am gleichen Platz wie vorhin, übermüdet und verstrubbelt.
»Da bist du ja endlich!« Sie unternahm einen fahrigen Versuch, ihre Haare zu glätten. »Mensch, Ellie, wie bringst du es nur fertig zu verschwinden, während Louis krank und Colin so von Sinnen ist! Das war echt nicht fair!«
»Guten Abend«, erinnerte ich sie daran, dass man wenigstens die Regeln der Höflichkeit einhalten konnte, wenn man seine Mitmenschen schon mit ungerechtfertigten Vorwürfen torpedierte. »Warum bist du noch wach?«
»Weil ich Bauchschmerzen hab und nicht schlafen kann.« Ah. Der Bauch mal wieder. »Außerdem wollte ich auf dich warten. Wo warst du denn die ganze Zeit?«
»Ist der Tierarzt gekommen? Hat er Louis behandeln können?«
»Ja. Ja, es kam ein Tierarzt, ziemlich schnell sogar. Louis hat sich wieder aufgerappelt, aber es war furchtbar, warum bist du nicht da gewesen? Ich habe Colin noch nie so erlebt, er hat geschwankt vor Hunger und Wut, konnte sich kaum auf den Beinen halten, ich dachte schon, er fällt mich an …« Ein Schlottern durchlief Giannas gekrümmten Körper. Tastend fuhr sie mit den Händen über ihren Bauch. Sie war Colin nicht gewachsen. Vielleicht sollte Paul mit ihr heimfahren, es wäre besser so. Sie würde noch zusammenbrechen. »Wieso hast du uns alleingelassen?«
»Weil ich Hilfe geholt habe! Ich war es, die den Tierarzt organisiert hat! Zufrieden? Außerdem wäre ich euch keine Unterstützung gewesen, ich fache nur Colins Hunger an und ganz nebenbei hab ich Angst vor Louis.«
»Ach, Ellie, du hast doch vor gar nichts mehr Angst«, erwiderte Gianna schneidend.
»So ein Quatsch. Ausgerechnet ich!«, rief ich lachend. »Ich hab vor fast allem Angst!«
Gianna stimmte nicht in mein Lachen ein. »Elisa, mach bloß keinen Mist. Ich weiß, er ist schön und hat eine faszinierende Anziehungskraft, aber du hättest Colin sehen müssen …«
»Ich habe Colin gesehen und ich kenne ihn besser als ihr alle zusammen. Meinst du im Ernst, ich könnte ihn betrügen? Das würde ich niemals tun. Könnt ihr eigentlich nur daran denken, an Sex? Es gibt noch anderes auf der Welt, was Menschen verbinden kann.«
Gianna sah mich lange an, mit einer milden, aber penetranten Ratlosigkeit in ihrer Miene, die mich mehr an den Pranger stellte, als jede verbale Attacke es vermocht hätte. Sie hatte keinen Grund, das zu tun. Ich hatte nichts Verbotenes angestellt.
»Sag mal, Gianna, gibt es eigentlich
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