Dornenkuss - Roman
in diesen roten Glutball starren, meine Gefühle wirr und wild.
Da war niemand.
Ruhelose, geliebte Siesta. Immerhin war ich hier oben, in diesem engen, schwülen Dachzimmer mit den gekalkten Wänden, für mich. Keiner störte mich in meiner Sehnsucht. Keiner wollte mich dabei stören. Auf den braunen Fliesen lag ich allein, ein Buch auf den nackten Knien, das ich nicht las. Geduldig wartete ich auf die Nacht, die uns zueinanderführen würde. Ab und zu nahm ich die Wasserflasche und ließ das Plastik knacken, wenn ich trank. Die Hitze drückte durch das Dach. Sie bettelte nach mir.
Ich hatte die Balkontür stets offen stehen, Blick in den Himmel, das Meer musste ich erahnen. Aber ich hörte es. Es war da.
Ich konnte mich verlassen.
… dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst …
»Kennst du sie schon? Die grüne Fee?«
»Nein. Nein … Was ist das?«
»Absinth.«
Nur das Flackern der Kerzen erhellte sein Gesicht und seine Hände, als er den Zucker auf den Löffel legte und über ihren Flammen erhitzte, bis er schmolz. Die grüne Fee … Sie war schon jetzt überall. Immer wieder flogen Motten ins Licht, verkohlten sich ihre Flügel, kamen gerade so mit dem Leben davon und versuchten es dennoch erneut. Ich musste lächeln über ihre Dummheit. Aber ich sah ihnen gerne bei ihrem Todesreigen zu. Eine setzte sich auf den Rand des hohen, dünnen Glases, als der Zucker in die grüne Flüssigkeit tropfte. Dann starb sie.
Ich stützte meinen Kopf auf meine Hände. Meine Locken strichen im säuselnden Wind über seine schlanken Finger. Hinter mir fielen welkende Blütenblätter hinab, lila und blutrot, verströmten zum letzten Mal ihre wilde, betörende Süße, bevor sie starr wurden und unter meinen nackten Füßen zerbrachen.
»Jetzt zeigt sie sich … sieh hin …«
Er goss eiskaltes Wasser in das Glas und das ätherische Grün des Absinths begann sich zu kräuseln, Schlieren zu bilden, Gesichter und schlanke Gestalten, bis es matt wurde und die Fee sich vor unseren Blicken verbarg. Wir mussten sie in unseren Schlund hinunterziehen.
»Beim ersten Glas siehst du die Dinge so, wie du sie gerne hättest.« Er senkte den Löffel erneut über die Flamme. »Beim zweiten Glas siehst du Dinge, die es nicht gibt.«
»Sagst du?«
»Sagte Oscar Wilde.«
»Ist nicht alles, was man sieht und fühlt, auch da?«
Er antwortete nicht, das musste er nicht, wir kannten die Antwort beide. Wieder zeigte die Fee sich uns, dieses Mal mit langem, wirbelndem Haar. Sie drehte Pirouetten im Glas. Dann verschwand sie, als wäre sie nie da gewesen.
»Beim dritten Glas, sagt er, siehst du die Dinge, wie sie wirklich sind, und das ist das Grauenvollste, was dir widerfahren kann.«
»Als Mensch.«
»Ja, als Mensch.«
Ich trank nur ein Glas.
Ich brauchte die anderen beiden nicht.
Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht …
Wir fuhren ohne Helm, die Arme bloß, eingerahmt von Bergen und Meer. Seine azurblauen Tiefen lagen weit unter uns, schwindelerregende Abgründe trennten uns von ihnen, ein falscher Schlenker, ein Stein auf der Straße, ein entgegenkommendes Lastfahrzeug hinter einer der Serpentinen hätte das Ende sein können.
Ich hielt mich nicht einmal an ihm fest. Ich breitete meine Arme aus, damit der Wind mit mir ringen konnte. Schwer drückte er gegen meinen Brustkorb und verwirbelte mein Haar. Ich würde es nie wieder kämmen können.
Immer höher hinauf, fort von all dem Trubel und der blinden Geschäftigkeit der Städte und ihrer Menschen, die sich vergeblich abplagten, um ihr Leben vernünftig und klug schimpfen zu können. Endlich hatte ich mich davon befreit.
Hinauf zu den Ruinen, wo es keine Gesetze mehr gab und keine Erwartungen, wo alles schon gestorben und vergessen war.
»Es ist die perfekte Idylle.«
Hierbleiben, mein Leben lang, im Licht stehen, gleißendes Licht überall. Wir saßen auf einer zerfallenen Mauer, um uns herum die Überreste einer vor Jahrhunderten verlassenen Stadt, in der nur noch Schlangen, Spinnen und Skorpione hausten. Die Zikaden schrien gegen die Stille an.
Er hob die Hand und sie schwiegen.
Jetzt hörten wir sie, die Geister, die nachts durch die Ruinen streiften und suchten, was sie verloren hatten. Wenn wir blieben, würden wir sie erlösen. Gelassen sah ich der Schlange zu, die sich neben uns auf den uralten Steinen sonnte. Ich erschrak auch dann nicht, als eine kräftige, gepanzerte Spinne unter einem ausgedörrten Ginsterbusch hervorkroch
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