Dornenkuss - Roman
nicht begreifen, was eben geschehen war. Warum es geschehen war. Welchen Sinn es hatte. Das hätten sie nicht tun dürfen. Das war keine Freundschaft – jemanden festzuhalten und abzubilden, ohne ihn zu fragen. Nein, das durften sie nicht. Ich musste diesen Film vernichten, die Kamera gegen die Wand zu werfen, reichte nicht aus. Ich hätte sie mitnehmen sollen. Die Aufnahmen mit Angelo konnte ich möglicherweise rausschneiden und retten, alles andere musste weg.
Meine Füße schleiften über den steinigen Grund. Unwillig zog ich sie an. Ich wollte noch nicht an Land. Doch die nächste Welle spülte mich mit der ewigen Gnadenlosigkeit des Meeres an den Strand. Ich blieb wie Treibgut im nassen Sand liegen, ohne mich zu regen. Ich hatte nicht einmal Lust zu atmen.
»Es ist erstaunlich. Ich war mir einen Moment lang nicht sicher, ob du nicht vielleicht doch einen Nixenschwanz hast …«
»Hab ich nicht«, erwiderte ich schlecht gelaunt und öffnete meine schmerzenden Augen. Es war der Moment, in dem die Dämmerung siegte und die Welt sämtliche Farbe verlor. Alles grau; totes, leeres Grau. Doch bald würde die Nacht zu leben beginnen. Ich suchte Angelos Blick, der selbst jetzt in einem schwachen Türkis aufglomm, robbte zu ihm und setzte mich wie er vor das einsame, kieloben liegende Fischerboot, sodass wir beide auf das schwarze glitzernde Wasser schauen konnten. Der Sand unter uns war kühler als sonst.
»Was ist passiert?«
Ich schüttelte mutlos den Kopf. »Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, sie wollen mich erziehen. Sie … sie … ach, sie stehen nicht mehr auf meiner Seite, sie kritteln ständig an mir herum, alles an mir passt ihnen nicht! Und es ist ihnen gleichgültig, dass ich mich wohlfühle, wie ich bin!«, sprudelte es aus mir heraus. »Immerzu hatte meine Umwelt an mir auszusetzen, dass ich zu empfindlich bin, zu schnell heule, zu ängstlich bin, dass ich mir zu viele Gedanken mache. Ich solle mich locker machen, haben sie gesagt, er hat das gesagt, es war sein Lieblingsspruch, locker soll ich mich machen und mich entspannen. Jetzt ist es so und keiner will es! Und es interessiert auch niemanden, wie ich mich dabei fühle! Mir geht es zum ersten Mal in meinem Leben richtig gut, ich mag mich und meinen Körper, ich kann loslassen, ich muss nicht ohne Unterlass grübeln und mich fürchten, und statt dass sie sich wie ich daran erfreuen, wollen sie es ausmerzen …« Ich nahm mein nasses Haar und wrang es mit einer kräftigen Bewegung aus. Sofort begannen die Strähnen sich zu locken und zu drehen. »Warum können sie mir das nicht gönnen? Warum meckert jeder an mir herum? Ich bin doch genau so, wie sie es immer gefordert haben …«
»Möchtest du wirklich wissen, warum das so ist?«, fragte Angelo. Unsere Hände lagen nebeneinander im Sand, nur wenige Millimeter voneinander entfernt. Gott, wie gerne hätte ich seine zu mir genommen …
»Ja – weißt du es denn?«
»Ich denke schon. Ich hatte viel Zeit, die Menschen zu beobachten, und ich sehe so etwas nicht zum ersten Mal. Sie sind von Grund auf neidisch. Vielleicht ist es eine evolutionäre Folge des Überlebenstriebes, vielleicht gönnen sie deshalb den anderen nicht das Gute, weil es sie selbst bedroht, wenn der eine zu viel hat und man selbst zu wenig. Das ist das schlichte, niederträchtige Geheimnis hinter dem Verhalten der anderen: Neid.«
»Aber es sind meine Freunde«, protestierte ich ohne Nachdruck. Freunde filmten einen nicht heimlich. Freunde freuten sich daran, dass es einem gut ging. Freunde mieden einen nicht wie der Teufel das Weihwasser.
»Das spielt keine Rolle. Ich weiß, die Menschen tun so, als ob sie ihren Freunden und Familienmitgliedern das Gute gönnen, und das sagen sie auch oft. Ich gönne dir das von ganzem Herzen. Ein beliebter Spruch. Aber ist das ehrlich? Wo genau fühlst du Neid?«
»Im Herzen«, antwortete ich spontan. Dort hatte er seinen festen Sitz. Wenn meinen Freundinnen früher etwas widerfahren war, was ich mir für mich selbst gewünscht hätte, und waren es nur ein Paar Schuhe, die sie gekauft hatten und die es nun nicht mehr in meiner Größe gab, hatte es im Herzen gezwickt, mal mehr, mal weniger, aber dieses Zwicken konnte zeitweilig beinahe penetranter sein als Liebeskummer. Es hatte mich zutiefst verunsichert und manchmal stundenlang an mir genagt. Und es hatte mir das Gefühl vermittelt, wertlos zu sein.
»Ja, im Herzen. Ich glaube, das ist die größte Lüge der Menschheit: ›Ich
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