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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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sein?
    In wildem, unkontrolliertem Galopp preschte Louis aus dem brennenden Wald heraus. Immer wieder musste er hinabgestürzte, qualmende Äste überspringen und wiehernd vor Furcht von Colin vorwärtsgetrieben werden, doch nach und nach lichtete sich das Dickicht und ich konnte wieder atmen, ohne husten zu müssen. Obwohl ich hin und her geschüttelt wurde, starrte ich meine blutende Hand an. Ich hatte sie mir verletzt, weil sie mich erinnern sollte, erinnern an … an meine Schuld. An das, was geschehen war. Was war eigentlich geschehen? Wodurch hatte ich mich schuldig gemacht? Ich brauchte Schmerz, mehr Schmerz, diese lächerlichen Verletzungen genügten nicht.
    Colin parierte das Pferd in den Trab, dann in den Schritt. Mit klappernden Zähnen sah ich mich um. Wir waren wieder am Meer, nicht mehr weit von unserer Straße entfernt. Nur noch wenige Meter und er würde mich absetzen, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
    Tu mir weh, dachte ich inständig. Ich bettelte ihn an. Bitte, tu mir weh. Tu mir weh! Es ist alles recht, solange es schmerzt!
    Colin brachte Louis zum Stehen, als würde er auf meine Worte lauschen, doch er blieb ungerührt im Sattel sitzen.
    Tu mir weh, versuchte ich es noch einmal in Gedanken, denn sprechen konnte ich nicht. Meine Zunge war verdorrt. Da Colin immer noch nicht reagierte, drehte ich mich um, schmiegte mich an seine Brust und schlang meine Arme fest um seine Schultern, so fest, wie ich nur konnte. Keine einzige Regung erwiderte meine Berührungen, kein Herzschlag, nicht einmal ein Rauschen. Nichts. Ich umarmte einen Felsen.
    Trotzdem presste ich ihn noch fester an mich, als wolle ich in ihn hineinkriechen, verhakte meine Hände auf seinem Rücken und legte meine Beine um seine Hüften. Ich musste an die Nymphe denken, die Morpheus verwandelt hatte, als er im Teich gebadet hatte … beide waren eins geworden … männlich und weiblich …
    Ich biss auffordernd in seinen kalten, starren Hals. Tu es! Plötzlich hob sich unter mir Louis’ Rücken an, ein leichtes Aufbäumen, dann trippelte er zur Seite und wieder zurück – nicht weil er sich fürchtete, sondern weil er das unwillkürliche Erbeben in Colins Brust fühlte. Ich fühlte es auch.
    Noch einmal beschwor ich all meine Kraft und Zähigkeit, bis meine linke untere Rippe unter der Gewalt meiner eigenen Umarmung knackste und einen feinen, gezackten Riss bekam. Sofort schoss der Schmerz in meine Lunge, wo er sich von nun an bei jedem einzelnen Atemzug neu erheben würde. Das genügte. Es musste genügen. Ich wusste nicht mehr, wofür, aber meine Kraft war verbraucht. Mehr konnte ich nicht tun. Erschöpft ließ ich Colin los und rutschte vom Pferd.
    Ohne ein Wort, ohne einen Blick wendete Colin Louis von mir ab und trabte die Straße hinauf und zurück in den Wald.
    Ich hingegen lief schwankend hinunter zum Strand, der sich leer und verlassen vor mir ausbreitete, und legte mich in die kühlende Brandung, bis der Abend die Sonne hinter dem brennenden Berg versinken ließ, früher als sonst, viel früher.
    Als die Welt ihre Farben vergaß, wälzte ich mich aus den Fluten und machte mich tropfnass, wie ich war, auf den Weg zu Angelos Haus. Die Tankstelle hatte bereits geschlossen; auch die Hauptverkehrsstraße zeigte sich mir ruhiger als sonst. Nur ab und zu fuhr ein Auto vorüber. Ich musste nicht einmal warten und schauen, um sie überqueren zu können. Das Zirpen der Grillen und Zikaden tönte sanfter und zerbrechlicher. Vielleicht hatte ich mich auch daran gewöhnt. Ohne zu zögern, lief ich weiter. Mit jedem Meter, der mich näher zu ihm brachte, wurden meine Schritte sicherer. Mein Rückgrat richtete sich von alleine auf, meinen Kopf trug ich stolz und anmutig auf meinen geschmeidigen Schultern. Ich musste das eiserne Tor nur antippen, damit es vor mir aufschwang.
    Nicht dieses Lied, bitte nicht …, dachte ich noch flüchtig, als die ersten Klavierakkorde zu mir schwebten – lange, bevor ich ihn sehen konnte –, doch dann gab alles in mir nach. Es sollte so sein. In seiner Gegenwart würde das Stück sich anders anhören und nicht das ewige Gefühl der Unzulänglichkeit in mir nähren, wie es sonst immer geschehen war.
    Ich hatte den Film zu diesem Soundtrack regelrecht gehasst. Die fabelhafte Welt der Amélie. Ich hasste den Titel, hasste ihren Namen, ihre Kulleraugen, ihr ewiges Lächeln – und dieser Hass rührte allein aus dem Wissen, dass ich niemals so sein würde wie sie, vom Schicksal gebeutelt und

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