Dornenkuss - Roman
dass ich mich an Ort und Stelle auf die schwankenden Schiffsbohlen legte, den Körper in der Sonne, den Kopf im Schatten, meine Tasche als Kissen unter dem Nacken.
Ich erschrak nur leicht, als meine Tagtraumbilder von ganz allein wieder zu Angelo zurückkehrten, nicht zornig, sondern reumütig und bittend. Sobald ich meine Augen schloss, sah ich seine und sehnte mich nach ihm – eine tief verankerte, zehrende Sehnsucht, die mich schon seit Jahren begleitete und zu mir gehörte wie mein widerspenstiges Haar und meine tausend kleinen und großen Ängste. Gegen sie würde ich niemals siegen und ich wollte es auch nicht mehr. Ich durfte schließlich keine Pläne fassen, ich durfte … nicht …
»Nein!«, weckte ich mich mit schwacher, zitternder Stimme. »Nein, Ellie!«
Ich sollte mich auf meine Gefühle einlassen, sie mir gestatten? Aber ich wollte nicht vergessen, was passiert war, auf keinen Fall! Das widersprach sich … Und was war mit Colin? Colin, der eben beinahe schon wieder weggedriftet war – er musste doch erfahren, was all die Jahre geschehen war, er musste wissen, dass mein Vater tot war, er musste mir helfen, mich zu erinnern … Doch vor allem musste ich ihn um Verzeihung bitten. Das musste ich tun, auch wenn es mein Leben und gleichzeitig meine Sterblichkeit gefährdete, weil Angelo es in meinem Kopf lesen konnte. Ich musste zu ihm. Wahrscheinlich würde ich sowieso sterben und ihn verlieren, aber wenn, dann wollte ich ihn vorher wenigstens noch ein Mal sehen.
Die Gefahr war zu groß, dass ich meinen Gefühlen erlag, ohne Colin gesagt zu haben, wie leid mir tat, was ich ihm angetan hatte. Ich wusste zwar nicht genau, worin meine Schuld lag, denn ich hatte ihn nicht betrogen, aber sie war da, ich spürte sie in meinem phlegmatisch schlagenden Herzen, wie einen Dorn, der sich in die Haut geschoben hatte und dort schmerzhaft pulsierte, obwohl man ihn nicht mehr sehen konnte.
Doch der Schmerz wurde nebensächlicher, je weiter wir auf die offene See hinausfuhren und Santorin hinter uns ließen, und ich verlor jegliches Zeitgefühl, während ich unter der sengenden Sonne vor mich hinschlummerte und hinter meinen geschlossenen Lidern nur beiläufig registrierte, wie nach einem langen, heißen Nachmittag die Nacht hereinzog und schließlich ein neuer Tag dämmerte. Erst am späten Nachmittag, kurz vor der Ankunft im Hafen von Cariati, entsann ich mich für einen winzigen Moment, warum ich hier war, und fuhr mit der flachen Hand über die Bootsplanken, um mir Splitter in die Finger zu jagen, die mich an das erinnern sollten, was ich tun wollte und tun musste: hinauf in die Berge fahren, Colins Höhle suchen, ihm sagen, dass es mir leidtat, nur diesen einen Satz, vielleicht unterstrichen durch eine zärtliche Geste, falls ich ihn noch berühren durfte, falls er mich überhaupt noch ansah. Falls es mich für ihn noch gab.
Ich war kaum ausgestiegen, als das Boot schon wieder kehrtmachte und auf die offene See hinausfuhr. Nun war ich frei wie ein Vogel, stand ganz oben auf der Abschussliste und deshalb spielte es keine Rolle, ob ich ein Auto stahl oder nicht. Ich tat es einfach. Es war leichter, als ich dachte; ein verrosteter Kleintransporter stand mit laufendem Motor am Pier, während sein Fahrer sich gestikulierend einige Meter weiter mit einer Gruppe Fischer unterhielt. Ich stieg ein, löste die Handbremse, trat das Gaspedal durch und jagte schlingernd und mit quietschenden Reifen aus dem Hafen. Im Rückspiegel sah ich noch, wie der Mann sich umdrehte und mir schreiend zu folgen versuchte, doch ich hatte ihn bereits an der nächsten Straßenecke abgehängt.
Ich ergriff die erste Möglichkeit, weg vom Meer und hinauf in die Berge zu fahren, obwohl ich nicht wusste, ob es jene Straße war, die Colin genommen hatte – ich wollte nicht verfolgt werden und die Carabinieri auf meine Spur bringen, und je schlechter die Wege befestigt waren, desto weniger würden sie vermuten, dass ich sie entlangfuhr. Ohne jegliche Orientierung fädelte ich mich die engen Haarnadelkurven hinauf; manchmal schaffte ich es noch, den Schlaglöchern und Gesteinsbrocken auszuweichen, manchmal brachten sie den Wagen zum Schleudern und rissen mir das Lenkrad aus den schweißnassen Händen.
Doch das war nicht die größte Gefahr – die größte Gefahr war der Wald selbst. Zuerst roch ich es, dann sah ich es auch: Er brannte. Nicht lichterloh und auch nicht überall, aber der Qualm wurde immer dichter und abseits der Straße
Weitere Kostenlose Bücher