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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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hatte? Konnte er überhaupt davon wissen? Ich hatte nie mit ihm über Tessa gesprochen, es hatte sich nicht ergeben – oder hatte ich instinktiv nichts von ihr erzählt? Wusste Angelo, dass wir sie getötet hatten? Es konnte ihm nicht entgangen sein …
    Einen Moment lang war meine Kehle wie stranguliert; es gelang mir kaum mehr, Luft zu holen. »Nicht durchdrehen, Ellie«, wies ich mich leise zurecht. Wenn Tessas Tod Angelo erzürnt hatte, hätte er mich längst umbringen können. Nein, es musste so sein, wie Morpheus es gesagt hatte: Angelo wollte die Freiwilligkeit, eine Freiwilligkeit, die er dank seines Charmes und seiner gewinnenden Ausstrahlung leichter hervorrufen konnte als jeder andere Mahr. Ob Tessa lebendig oder tot war, war ihm gleichgültig. Trotzdem hoffte ich, dass Morpheus ihm zuvorgekommen und er es gewesen war, der meinen Vater über Tessa und Colin unterrichtet hatte.
    Gut, der erste Anruf war geklärt – was war mit dem zweiten? Noch befand ich mich auf dem offenen Meer, weit weg von Italien, noch durfte ich nachdenken, auch wenn es immer aufreibender wurde. Der zweite Anruf hatte mich ebenfalls im Westerwald erreicht, in den frühen Morgenstunden. Plötzlich sah ich die drei Worte, die Morpheus in den Hörer gesprochen hatte, wie Leuchtzeichen aufblinken: Süden, Augen, Gefahr. Danach war die Verbindung abgebrochen und ich hatte in einem zerstörerischen Wutanfall das Telefon so oft gegen die Wand geworfen, bis es zerbrochen war.
    Auch jetzt regte sich Unmut in mir. Morpheus mochte das Telefonieren ja hassen, aber er hätte sich wenigstens ein bisschen anstrengen und vollständige Sätze bilden können. Süden, Augen, Gefahr, das konnte alles und nichts bedeuten. Süden und Gefahr, okay, bei diesen beiden Worten tippte ich auf Angelo oder Tessa oder beide. Aber Augen? Was hatten die Augen in diesem hochintellektuellen Dreigestirn der mahrischen Telefonkunst zu suchen? Oder hatte ich Morpheus damals nur falsch verstanden? Die Augen passten nicht hinein. Und doch war es das Wort, das am schwersten zu wiegen schien. Hatte er damals schon Grischas Brief gelesen? Und war Papa schon tot gewesen?
    Ich gab seufzend auf, trotz der großen Gefahr, der ich entgegenreiste. Es hatte sowieso keinen Zweck, ich durfte nicht nachdenken, durfte keine Pläne fassen. Zumindest keine Pläne, die Angelo verraten konnten, dass ich wusste, was er all die Jahre getan hatte, und etwas dagegen unternehmen wollte.
    In einem plötzlichen Müdigkeitsschauer rutschten meine Hände von der Reling und mein Kinn knallte gegen das salzverkrustete Metall. »Autsch«, murmelte ich schläfrig, bevor ich mich gähnend wieder aufrichtete und hinüber zum Führerstand des Bootes schaute. Mir war der Fischer, zu dem Morpheus mich geführt und den er mit einem knappen Nicken begrüßt hatte, von der ersten Sekunde an nicht ganz koscher vorgekommen. Kein anderer Mahr würde sich auf diese Insel wagen, hatte Morpheus gesagt. Sie sei sein Jagdrevier. Aber Colin war zu ihm gekommen, drei Mal sogar, auch Papa war nach Santorin gereist, unter anderem, um Morpheus das Telefonieren beizubringen (eine Vorstellung, bei der ich traurig lächeln musste), und mein Vater war immerhin ein Halbblut gewesen.
    Dieser Fischer hier hatte bislang kein Wort mit mir gesprochen, er richtete seine rehbraunen Augen, über denen sich dichte, struppige Brauen wölbten, stur auf den Horizont. Doch mir fiel seine Unbeholfenheit im Umgang mit der modernen Technik auf. Das Funkgerät hatte er vorhin ausgeschaltet, weil es nur noch unkontrolliert knatterte und rauschte, und der Radarbildschirm im Bordcomputer zeigte keine Seekarte, sondern grauweiße Schneeschauer. Nichts funktionierte mehr. Aber all das brauchte der Mann gar nicht, er trug seinen Kompass im Kopf, weil er dieses Meer kannte, wie kein elektronisches Gerät es jemals konnte, und nahm Schiffe wahr, bevor er sie auf dem Radar sehen konnte – weil er die Träume der Besatzung witterte. Er musste ein Mahr sein. Morpheus und er waren friedlich miteinander umgegangen, in einem stillen, melancholischen Einverständnis. Vielleicht bezeichnete Morpheus ja nur jene seiner Artgenossen als Mahre, die sich dem raffgierigen, gewissenlosen Rauben verschrieben hatten, und die wenigen anderen waren Menschen für ihn?
    Wieder musste ich gähnen; es kam so schnell, dass ich nicht mehr die Hand vor den Mund nehmen konnte. Ungeniert bleckte ich meine Zähne. Meine Gedanken wurden so träge und meine Lider so schwer,

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