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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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trotzdem stets einen liebevollen, selbstlosen Gedanken im Herzen. Sogar als das Schicksal mich noch nicht gebeutelt hatte, hatte ihre Fröhlichkeit mich überfordert. Sie war mir zu nett, zu niedlich, zu anständig, doch die Klaviermusik des Films hatte ich klammheimlich geliebt, schon beim ersten Hören. Und jetzt galt sie mir. Meinen Schritten, meinen Bewegungen, meiner störanfälligen Seele. Comptine D’un Autre Été. Sie führte mich zu ihm, ohne Hast und Eile.
    Das Erdbeben hatte Spuren der Verwüstung im Garten hinterlassen, die ich bei meiner Flucht nicht bemerkt hatte, jetzt aber umso deutlicher wahrnahm und die mich mit ihrem morbiden Charme zum Lächeln brachten. Der Steinengel mit dem Löwen war entzweigebrochen, sie waren nun getrennt, der Löwe hatte seine starken Pfoten verloren, der Engel lag mit dem Gesicht auf dem vertrockneten braunen Gras. Blumentöpfe waren zerborsten, die Erde quoll wie Eingeweide aus ihren Spalten und Rissen, die Fliesen am Rande des Pools waren von feinen Sprüngen durchzogen. Eine dünne grüne Algenschicht schwappte auf dem Wasser. Scherben von zerbrochenen Windlichtern bohrten sich in meine nackten Sohlen, als ich zu ihm an den Flügel trat, der das Beben der Erde überlebt hatte und so rein und klar klang wie immer. Grauer Staub bedeckte die Sitzmöbel und die unzähligen Kissen, Staub bedeckte auch sein helles Haar. Der Abdruck seines Körpers auf der großen Ottomane und die kleine Schlafnarbe auf seiner linken Wange zeigten mir, dass er eben noch geruht hatte, inmitten des Chaos.
    Die Bibliothek sah so aus, wie ich sie verlassen hatte, Berge von Büchern auf dem Boden. Die Vorhangstangen des Salons hingen kreuz und quer herunter. Ein sanfter Wind bauschte den dünnen Stoff auf, sodass seine Säume immer wieder über den Staub am Boden glitten und geheimnisvolle Muster darin hinterließen.
    Angelo sah zu mir hoch, ohne mit dem Spielen aufzuhören, und ein wehmütiges Seufzen quälte sich aus meiner Brust. Wie sollte ich jemals einen Tag würdevoll überstehen können, ohne ihn wenigstens anzusehen? In seinem Mund steckte ein Lolli, nur der Stiel schaute heraus, seine linke Wange leicht ausgebeult. Vorsichtig strich ich ihm den Staub aus den Haaren, dann legte ich meine Arme um seine Schultern und schmiegte meine Wange an seine. Das Lied sollte niemals enden, jetzt, wo ich es ohne Hass hören konnte, wenn auch mit unendlicher, ziehender Sehnsucht, die bis in meine Fingerspitzen wanderte, so sehr schmerzte mein Herz.
    Vorsichtig nahm ich den Lolli aus seinem Mund – er gab ihn nicht sofort frei, hielt ihn kurz mit seinen Zähnen fest, wie ein junger Hund, der spielen wollte – und schob ihn auf meine Zunge. Angelos Speichel schmeckte süß, darunter wartete die sauer-erfrischende Kombination aus Zitrone und Cola. Meine Lieblingssorte. Natürlich meine Lieblingssorte. Ich biss hinein, bis die scharfen Kanten des Zuckers in meine Zunge schnitten. Knirschend zerkaute ich ihn.
    »Wird das irgendwann aufhören?«, fragte ich ihn leise. »Diese Sehnsucht, der Schmerz?«
    »Wann immer du willst …«
    »Bald«, flüsterte ich. »Ich will dir nahe sein, dich spüren.« Dich verschlingen. Ich wollte es so sehr. In seiner Gegenwart wurde alles belanglos, was vorher die Macht gehabt hatte, mir meinen Lebensmut zu nehmen.
    »Das kannst du. Sag mir nur, wann, und ich bin da.«
    »In einem Tag und einer Nacht.«
    »Einem Tag und einer Nacht?« Sein Lächeln vertiefte sich. »Die Vorfreude, oder?«
    »Genau. Ich möchte mich darauf freuen können.« So war es schon immer gewesen. Ich war kein Überraschungsmensch, ich wollte mich auf schöne Dinge freuen können. Ich brauchte mindestens einen Tag und eine Nacht dafür, sonst war es sinnlos. Ich konnte schnell traurig werden, binnen Sekunden, doch die Freude verlangte Zeit.
    »Wo?«, fragte Angelo und spielte die verzögerten, bedächtigen Schlusstakte. Ich fing beinahe an zu weinen, als der letzte Ton verklang. Ich wollte es noch einmal hören.
    »Oben, in der Sila.«
    »In der Sila?«
    »Ja. Bei dem Dorf, in dem du mich das erste Mal aufgefangen hast und wir das erste Mal zusammen waren – alleine. Dort soll es geschehen.«
    »Es brennt … Der Wald brennt.«
    »Ich weiß.« Ich zermalmte krachend den Rest des Lollis, ohne etwas zu schmecken. Nur süß, sonst nichts. »Aber nicht überall. Oberhalb des Dorfes ist eine Wiese, wo die Ziegen geweidet haben. Dort warte ich auf dich, während der Nachmittagshitze. Ich möchte die

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