Dornenkuss - Roman
bis ich mich erholt hatte, doch ich spürte ihre Ungeduld. Sie wollte ins Wasser. Und plötzlich wollte ich es auch. Es konnte mir nicht schnell genug gehen. Zwei Minuten später standen wir bis zum Bauch in den sanften Wellen und ich lachte vor Überraschung vergnügt auf.
»Das ist ja gar nicht kalt!«, rief ich und fuhr mit den Fingern durch das durchsichtige Blau. Ich konnte bis zu meinen Füßen blicken. Wohlig krallten sich meine Zehen in den weichen Sand, bevor ich mich abstieß und langsam hinabsinken ließ, sodass das Wasser mich ganz umfing. Ich wäre gerne minutenlang am Grund des Meeres geblieben, um die Hitze aus meinem Körper zu verscheuchen, doch meine schlecht trainierten Lungen trieben mich schon nach Sekunden zurück an die Oberfläche. Ja, hier musste ich selbst atmen. Hier gab es keinen Cambion, der mich von seiner Luft trinken ließ.
Um mich von Colin abzulenken, schaute ich auf den Strand, wo sich Paul und Tillmann näherten. Sie waren doch nicht in ihren Betten geblieben. Ohne uns hielten sie es nicht aus. Paul hinkte immer noch und Tillmanns Schnelldiagnose von vorhin erinnerte mich an die Nacht vor unserem Aufbruch.
»Tut mir übrigens leid, dass ich euch vorgestern Abend gestört hab beim … äh …«
»Oh, macht nichts!«, versicherte Gianna großzügig. »Paul konnte sowieso grad nicht mehr. Er war aus dem Konzept geraten.«
»Keine Einzelheiten«, verbat ich mir weitere Schilderungen. Gianna, die ihren Mund bereits geöffnet hatte, schloss ihn wieder und schluckte. »Na gut. Sind zwei schöne Kerle, oder?«
Ja, das waren sie, obwohl Paul gerade einen übertrieben gezierten Tuntengang nachahmte – eine seiner Spezialitäten – und damit sämtliche Blicke der anderen Badenden auf sich zog. Es war seine Art, mit seiner sexuellen Irreführung durch François umzugehen, und wir alle gönnten sie ihm. Tillmann strich sich lachend und ein bisschen gedankenverloren über den Bauch.
»Bist du nicht manchmal in Versuchung?«, fragte Gianna verschwörerisch und kickte mich unter Wasser mit dem Knie an.
»Heute nicht«, antwortete ich trocken. »Nein, ganz ernsthaft, eigentlich bin ich es nie. Ich mag ihn über alles, meistens jedenfalls, aber Colin … Colin ist … unvergleichlich. In allem. Denke ich mal.«
Gianna griff in die Wellen und benetzte ihre dunklen Haare.
»Ich mag ihn, weißt du das?«
»Wen – Tillmann?« Wieder musste ich lachen. Die meiste Zeit ignorierte Gianna ihn, und wenn sie mal mit ihm sprach, dann eher mütterlich-streng als freundlich oder gar liebevoll.
»Nein. Den mag ich auch, aber er ist ein ungezogener, naseweiser Lümmel. Nein, ich meine Colin. Ich mag ihn. Er macht mir Angst, doch … ich respektiere ihn. Ich finde, er hat Größe. Er ist unser tragischer Held.«
Giannas Worte lösten eine tiefe, ziehende Wehmut in mir aus, die mich hilflos und klein machte.
»Gianna, was tun wir denn jetzt?«, brach es aus mir heraus. »Was tun wir hier nur?«
Paul und Tillmann hatten die Brandung erreicht und wanden sich aus ihren Shirts.
»Ganz einfach, Ellie. Heute tun wir gar nichts. Und morgen auch nicht. Colin wird uns Zeit geben, uns einzugewöhnen, und die werden wir nutzen. Bevor er nicht hier ist, kommt Tessa nicht. Das ist doch so, oder?«
Ich nickte. Ja, dieses Versprechen konnte ich Gianna geben. Ich hätte es gespürt, wenn sie in der Nähe gewesen wäre. Aber das war sie nicht. In diesem Moment, wo die Wellen so sanft und spielerisch gegen meinen Bauch schwappten, war ich mir nicht einmal sicher, ob es sie überhaupt gab.
»Okay. Dann sage ich dir, was wir tun«, plapperte Gianna drauflos. »Wir gehen nachher in aller Ruhe Lebensmittel einkaufen, machen uns etwas zu essen, sitzen auf der Terrasse und trinken Rotwein, bis die Temperatur unter 25 Grad sinkt. Wir können nichts anderes tun als genau das. Und morgen, vielleicht auch erst übermorgen, denken wir noch einmal über die Formel nach. Vorher nicht.«
Nichts tun. Das klang zu banal, zu beliebig. Wollte Gianna wirklich warten und Zeit verstreichen lassen, bis wir über die Formel sprachen? War das nicht riskant? Aber ich hatte keine bessere Idee parat. Und schlug sie nicht genau das vor, wonach ich mich das ganze Frühjahr über gesehnt hatte? Im Meer baden, die Sonne genießen, ausruhen? Nichts mehr denken, am besten gar nichts fühlen? Sollte ich nicht wenigstens davon kosten, bevor der Horror seinen Lauf nahm?
Ich versuchte es, zuerst zerstreut und ohne es genießen zu
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