Dornentöchter
wollte euch nicht umbringen. Ich wollte euch nur ein Weilchen krank machen. Wenn ich das Poet’s Cottage hätte, dann würde Bambi ganz sicher zurückkommen. Sie hat das Haus immer gemocht, wegen der Geschichte mit Pearl.«
Maria betrachtete Gracie angewidert. Sadie empfand eine Mischung aus Mitleid und Ärger. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sich unter Gracies fröhlicher Oberfläche diese dunklere, psychisch instabile Seite verbarg. Vielleicht stimmte ihre Geschichte, vielleicht war sie aber auch nur eine einsame, alternde Frau, die sich ein Phantasieleben zurechtgestrickt hatte, an das sie inzwischen selbst glaubte.
»Ich kann nicht fassen, dass du Betty und mir gegenüber einen solchen Groll hegst und dass du so weit gegangen bist.« Sadies Stimme zitterte, und sie versuchte, sich unter Kontrolle zu halten. Schlimm genug, dass sie deswegen nun in Bademantel und Lockenwicklern in ihrer eigenen Küche stand, und Simon Parish direkt neben ihr. Warum musste dieser Mann sie immer in ihrer Nachtwäsche sehen? Aber sie würde jetzt nicht zusammenbrechen wie die Heldin in einer Seifenoper – das war einfach nicht ihr Stil. »Ich habe in dir eine Freundin gesehen, Gracie. Ich dachte, im Poet’s spukt es, dabei warst das die ganze Zeit bloß du! Ich kann es nicht fassen.«
»Aber es spukt hier tatsächlich.« Die Stimme, die von der hinteren Küchentür erklang, ließ sie alle zusammenfahren, und Gracie stieß einen schrillen Schrei aus. Dort stand Thomasina in einem Herrenpyjama aus Flanell, mit Gummistiefeln an den Füßen und einer Wollmütze auf dem Kopf. Sadie spürte, dass Maria kurz davor war, hysterisch loszulachen. »Also, es hat zumindest mal gespukt – bis ihr alle es mit eurem Geschnatter vertrieben habt. Ich dachte, hier passiert irgendwas. Ich bin hergekommen, um euch zu beschützen.« Entgeistert bemerkte Sadie, dass Thomasina einen alten Kricketschläger in der Hand hielt. War denn die ganze Stadt verrückt?
»Thomasina, hast du irgendetwas darüber gewusst, dass Violet sich ins Haus geschlichen hat?«, wollte Sadie wissen.
»Hab ich. Ich beobachte schon ewig, dass sie sich hier wie ein verängstigter Hund herumdrückt. Ich hab angenommen, es macht sie scheu, dass ihr hier eingezogen seid. Sie benutzt gerne das Badezimmer, um sich dort zu waschen. Schon seit Jahren«, erwiderte Thomasina.
»Aber warum hast du uns nichts davon erzählt?«, fragte Sadie vorwurfsvoll.
Thomasina zuckte mit den Schultern. »Du hast nie gefragt.« Und mehr war aus ihr zu diesem Thema auch nicht herauszubekommen.
Nachdem sie Gracie das Versprechen abgenommen hatten, dass sie sich bei einem von ihnen ausgewählten Therapeuten in Behandlung begeben würde, kündigten Simon und Maria an, am nächsten Tag wiederzukommen, um Sadie beim Versperren des Tunnelzugangs zu helfen. Sadie war ganz gerührt von ihrem Angebot. Sie konnte nun nachvollziehen, weshalb Maria in solch lobenden Tönen von Simon gesprochen hatte. Er war wirklich ein Mann, auf den man im Notfall zählen konnte. Sein Ton ihr gegenüber war an diesem Abend auch deutlich freundlicher gewesen. Vielleicht hatte es ihn milder gestimmt, sie so schrecklich krank zu sehen? Oder vielleicht hatte Maria ihm erzählt, dass sie nicht an Gary interessiert war? Als Sadie die beiden verabschiedete, fragte sie sich, wie sie nach alledem die Nacht durchschlafen sollte. Nun da sie wusste, dass da dieser Geheimgang zum Meer existierte, fühlte sie sich nicht mehr sicher. Sie hatte Angst davor, aufzuwachen und Violet neben dem Bett stehen zu sehen. Betty ging es wohl genauso, denn sie fragte, ob sie vielleicht für eine Nacht bei Sadie schlafen dürfte.
Als sie sich zudeckten, fing Betty auf einmal an zu kichern, weil ihr Thomasina mit ihrer Wollmütze wieder einfiel.
»Aber du magst sie doch, oder?«, erkundigte sich Sadie.
»Sie ist auf eine bekloppte Art irgendwie cool.«
Obwohl Sadie gedacht hatte, sie würde garantiert nicht schlafen können, versank sie bald in einem wirren Traum, in dem sie rennend versuchte, einen Zug zu erreichen, in den Pearl bereits eingestiegen war. Pearl rief ihr vom Fenster aus zu, sich zu beeilen, aber Sadies Füße waren wie aus Blei. Entsetzt beobachtete sie, wie sich der Zug mit einer dicken Rauchwolke in Bewegung setzte. Pearl winkte ihr mit behandschuhter Hand zum Abschied und warf ihr Kusshändchen zu. Sadie wusste – aber sie konnte es Pearl nicht mitteilen –, dass sich noch jemand anderes in dem Waggon befand. Jemand Böses, der
Weitere Kostenlose Bücher