Dornentöchter
Poet’s Cottage von außen so imposant wirkte, war es innen doch recht überschaubar. Es gab drei Schlafzimmer, zwei Bäder – eines davon offensichtlich nachträglich eingebaut –, einen Raum, der sowohl als formelles Esszimmer als auch als Bibliothek diente, eine Küche mit angeschlossener Speisekammer und ein kleines Waschhaus nach hinten hinaus. Die meisten der Originalmöbel waren noch vorhanden. Zwei große Porzellanhunde bewachten den gemauerten Kamin in der Bibliothek. Außerdem gab es ein Klavier und in der Küche, die mit ihren bloßen Holzbalken und den Blumenfenstern sehr gemütlich wirkte, einen Eisschrank.
Im Gegensatz dazu ließ der nasskalte Keller Sadie bis ins Mark erschaudern. Er war der dunkelste Schatten im Netz des Lebens ihrer Großmutter, der Ort, wo dieses Leben so blutig geendet hatte. Zu jenem Zeitpunkt schien sie alles zu besitzen: zwei wunderhübsche Töchter, ihre eigene vielgepriesene Schönheit, einen liebenden Ehemann und eine erfolgreiche Karriere als Schriftstellerin. Weder Mutter noch Tochter wollten allzu lange in diesem dämmrigen, beklemmenden Raum verweilen. »Wir sollten ihn weiß anstreichen«, meinte Sadie zu Betty.
»Möglicherweise brauchen wir einen Priester, der ihn segnet«, antwortete diese.
»Betty, Schatz, du hast zu viele Folgen Medium angeschaut!« Sadie lachte und schwankte zwischen Belustigung und Entsetzen. Obwohl von zwei Atheisten erzogen, verlangte Betty jetzt nach einem Priester.
Pearls Anwesenheit war jedoch überall spürbar. Sie mochte 1936 gestorben sein, aber es war, als sei sie nie fortgegangen – in fast jedem Zimmer hingen gerahmte Fotografien, Bilder und Skizzen von ihr. Ihre Aufmachung und Schönheit im Stil von Louise Brooks wurde vor allem in den offiziellen Studioaufnahmen deutlich: das kindliche Porzellangesicht, der schwarze Bob, der stolze Blick und rote Schmollmund, der entweder ein Zeichen von Launenhaftigkeit oder Sinnlichkeit sein konnte. Auf ihrem Hochzeitfoto strahlte sie wie ein glamouröser Filmstar. Sie umklammerte einen riesigen Orchideenstrauß, und Maxwell, dem eine dunkle Haarlocke ins Auge fiel, stand neben ihr, ein Lächeln auf seinem attraktiven Gesicht. Ein weiteres Porträt, zusammen mit ihren beiden Töchtern, zeigte Marguerite, die zu ihrer Mutter aufsah, und Pearl, die den Blick mit einem kleinen Lächeln erwiderte. Thomasinas Gesicht war halb abgewandt und ihre Miene von einem bis unter die Augenbrauen reichenden Pony verborgen. Der Bob-Haarschnitt der Mädchen imitierte den Look ihrer Mutter. Sogar in diesem zarten Alter waren ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten bereits am Gesichtsausdruck ablesbar. Das strahlende Gesicht der zweijährigen Marguerite zeigte nichts als Liebe und Bewunderung für ihre Mutter, während Thomasina sich offensichtlich den Anweisungen des Fotografen, zu posieren, widersetzte.
»Sie ist so wunderschön!« Betty starrte Pearl an. »Schwer zu glauben, dass sie mit uns verwandt ist.« Sie schwieg einen Moment, während sie die beiden kleinen Mädchen studierte. »Warum hasst Thomasina sie so sehr?«
»Ich weiß es nicht. Mum wollte mir nie die ganze Geschichte erzählen.« Marguerite hatte Sadie viele liebevolle Anekdoten über ihre Mutter und aus ihrer Kindheit erzählt, jedoch sehr wenig über ihre anderen Verwandten von beiden Seiten der Familie. Wann immer Sadie nachgebohrt hatte, war ihre Mutter unheimlich emotional geworden und hatte behauptet, sie wisse selbst sehr wenig. Einen Teil ihrer Geschichte behielt Marguerite stets für sich, und Sadie hatte das Gefühl herumzuschnüffeln, wenn sie versuchte, mehr zu erfahren. Bedauern und Schuldgefühle machten sich in Sadie breit, weil sie sich nie genug Mühe gegeben hatte, Marguerite all diese Fragen über die Familie zu stellen. Wie Chloe, die Pflegerin, kurz vor Marguerites Tod gesagt hatte, war Sadie nun die »Familienchronistin«. Eines Tages würde Betty vielleicht anfangen, sich für ihre Verwandten zu interessieren, doch das Problem war, dass Sadie selbst diese Familie kaum kannte. Zu viel war mit dem letzten Atemzug ihrer Mutter erloschen. »Thomasina hat immer behauptet, ihre Mutter würde sie schlecht behandeln und Marguerite bevorzugen. Vielleicht war sie psychisch krank?«
»Pearl oder Thomasina?« Betty betrachtete immer noch das Porträt.
»Wir wissen nicht, ob Pearl psychisch krank war. Birdie Pinkerton hat es in ihrem Buch über Pearl zwar behauptet, aber sie war wohl kaum unvoreingenommen. Schließlich war sie
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