Dornentöchter
der anderen Straßenseite, gegenüber vom Poet’s Cottage, hoppelten Hasen über den Streifen Wiese, der zum Meer hinunterführte, und Möwen flogen kreischend übers Wasser. Die Leere und Schönheit der Landschaft war fast überwältigend.
Das Haus lag an der Küstenstraße, die aus Pencubitt herausführte. Links und rechts gab es noch ein paar andere Strandhäuser, einige von ihnen aus einer ähnlichen Bauzeit wie das Poet’s Cottage. Am Fenster eines Hauses in der Nähe bewegte sich der Vorhang. Zwischen dem Poet’s Cottage und dem Wasser trug ein großer Friedhof mit verwitterten Steinkreuzen und Engelstatuen, die aufs Meer hinausblickten, zum leicht morbiden Charme der Küste bei. Generationen von Pencubitt-Familien, die bis in alle Ewigkeit neben dem Poet’s Cottage ruhten. Der Wind peitschte die Wellen auf den meilenlangen weißen Sandstrand, und Shelley Beach schien ihnen einen wilden Willkommensgruß entgegenzurufen. Hinter dem Haus begann das Buschland, dessen grüne Hügellandschaft einen angenehmen Kontrast zu den weißen Steincottages bildete, die sich um den Hafen gruppierten. Das hier könnte ebenso gut in Cornwall sein, dachte Sadie. Nachdem sie jahrelang Sydneys Abgase in möglichst flachen Atemzügen inhaliert hatten, labten sich ihre Lungen nun gierig an der klaren tasmanischen Luft.
»Mrs Jeffreys?« Ein großer, rotwangiger Mann mit rotkarierter Mütze kam den Trampelpfad entlang auf sie zu. »Ich bin Jeremy Flannery, Gärtner und Mädchen für alles im Poet’s. Freut mich, Sie kennenzulernen. Ein bisschen Leben in der Bude wird dem alten Haus guttun.«
»Hallo, Jeremy. Nennen Sie mich doch Sadie. Und das ist meine Tochter, Betty.«
Betty ignorierte Jeremy und starrte weiter an der Hausfront hinauf. »Ich glaube, ich habe oben am Fenster gerade eine Frau gesehen«, meinte sie.
»Das war vermutlich der Geist, junges Fräulein«, sagte Jeremy und beobachtete Betty aufmerksam.
»Das Haus hat einen Geist?«, erkundigte sich Sadie leichthin, in der Hoffnung, dass ihre Tochter das Thema nicht wirklich ernst nehmen würde. Sie hatte unter dem Tod ihrer Großmutter, der Trennung ihrer Eltern und dem Mobbing, das sie an St. Catherine’s ertragen musste, schon genug gelitten. Es schien zwar, als hätte sich Betty von ihrer Essstörung erholt, aber sollte sie sich überfordert fühlen, war es durchaus möglich, dass sie wieder anfing, Nahrung zu verweigern.
Jeremy lachte. »Sagt man zumindest im Dorf. Ich habe den Geist nie selbst gesehen. Trotzdem meinen die Leute, Ihre Großmutter Pearl würde sich weigern, das Poet’s zu verlassen – ist zwar nur das Gegacker von ein paar alten Hennen, aber da es die Kinder davon abhält, ins Haus einzubrechen, verbreite ich eben auch die Geschichte vom Gespenst.«
»Cool«, meinte Betty, die immer noch nach oben sah. »Ich wette, ihr Geist spukt in dem Haus herum. Sie wurde umgebracht, nicht wahr? Vermutlich ist ihr Geist an diesen Ort gebunden, weil er versucht, ihren Mörder der gerechten Strafe zuzuführen.«
»O Betty, du und deine Phantasie.« Es war Sadie vor dem Gärtner peinlich und gleichzeitig hasste sie sich selbst, weil es ihr etwas ausmachte, was Jeremy dachte. Sie wandte sich mit einem höflichen Lächeln an ihn. »Der Garten sieht sagenhaft aus. Sie haben sich wirklich toll um das Grundstück gekümmert.« Einen Moment lang standen sie schweigend da und bewunderten den Garten des Hauses mit seiner Überfülle an Stiefmütterchen, Leinkraut, Rhododendren, Azaleen und einer Vielzahl anderer Blumen, die Sadie nicht identifizieren konnte.
»Das ist nicht nur mein Verdienst. Der Garten bleibt viel sich selbst überlassen, aber der Frost im letzten Winter war nicht allzu hart«, erklärte Jeremy. »Meine Frau Nancy hat hinten ein paar Tulpen gepflanzt und einigen Rosen neues Leben eingehaucht. Sie übernimmt einen Großteil der Putzarbeiten im Haus und ich helfe mit den schwereren Sachen aus.« Er hielt kurz inne, ehe er hinzufügte: »Das mit Marguerite tut uns leid.«
Der Schmerz in Sadies Innerem wütete heftig. »Vielen Dank, Jeremy. Das ist sehr nett von Ihnen. Ich habe Ihre Karte bekommen und Ihre Worte sehr zu schätzen gewusst. Meine Mutter hatte immer solch glückliche Erinnerungen an das Poet’s Cottage.«
»Sie sind Schriftstellerin, nicht wahr?«, wollte er wissen. Sadie nickte. »Das ist gut. Davon haben wir alle gehört. Deshalb ziehen jetzt ja auch Sie hier ein und nicht die da.« Er wies mit dem Daumen in Richtung des
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