Dornentöchter
dass wir ins Poet’s Cottage gekommen sind.«
»Sie fehlt mir so!«, schniefte Sadie. Angst und Zweifel packten sie. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, Betty hier in diesen winzigen Fischerort zu bringen? Für pensionierte Ehepaare mochten grundlegende Veränderungen dieser Art keine Erschütterung ihrer Welt bedeuten, aber für ein junges Mädchen, das seine ganze Zukunft noch vor sich hatte? Hatte Jack womöglich recht, wenn er behauptete, sie sei nicht in der Verfassung, eine solch bedeutende, lebensverändernde Entscheidung zu treffen? Was hätte Marguerite geraten?
Sadie kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Sie war übermüdet vom Flug, der Fahrt und den Gefühlen, die ihre Rückkehr ins Poet’s Cottage auslöste. Jack würde schon sehen, wie sehr er sich täuschte! Das Beste, was sie je getan hatte, war dieser Umzug nach Pencubitt. Das Leben in Sydney war nur noch eine leere Hülle gewesen, seit Marguerite gestorben und Jack ausgezogen war. Sie rang sich ein erschöpftes Lächeln für Betty ab, die ihre Mutter immer noch genau beobachtete. »Ich bin total erledigt von der ganzen Aufregung«, meinte sie.
»Ist schon gut, Mum. Ich mach uns mal einen Kakao«, erwiderte Betty.
In dieser Nacht fand Sadie kaum Schlaf. Wind und Regen trommelten aufs Dach und die Wellen klatschten wie zur Begleitung wild ans Ufer. Sie sehnte sich verzweifelt nach ihrer Mutter. Der schmerzhafte Wunsch, mit ihr reden zu können, war überwältigend. Warum hatte sie ihre Mutter als so selbstverständlich betrachtet, geglaubt, dass Marguerite immer da sein würde? Sonst war Jack derjenige gewesen, der Entscheidungen fällte, der die richtige Vorgehensweise beschloss, der vernünftigen Rat erteilte. Sadie fragte sich erneut, weshalb sie Betty in dieses Dorf gebracht hatte, auf der Spur einer Frau, die längst tot war. Wie sollte Betty hier Freunde finden? Was, wenn sie einen Rückfall erlitt, weil ihre labile, selbstsüchtige Mutter sie aus ihrem Leben in Sydney gerissen hatte? Seit der schlimmsten Phase von Bettys Magersucht waren fast zwei Jahre vergangen, aber Sadie wusste, wie viel Betty mit der Trennung ihrer Eltern, gefolgt von Marguerites raschem Verfall und Tod durchgemacht hatte. Sie konnte sich nie wirklich in dem Glauben entspannen, dass Betty vollkommen geheilt war.
Und was wusste sie schon über alte Häuser? Wie sollte sie die Gärten instand halten? Der Modergeruch im Haus war heftig – wie sicher war es dort überhaupt? Horrorvisionen von giftigem Schimmel, Asbest, Bleifarben, undichten Dächern, verrosteten Abflussrohren plagten sie – ganz zu schweigen von den rastlosen Untoten.
Ab und zu erstarrte Sadie, wenn sie ein Knarren hörte, das wie Schritte klang. Scherze über Gespenster und Exorzismus schienen bei Nacht nicht mehr halb so spaßig wie am Tag. Was, wenn Pearl im Poet’s Cottage herumspukte, weil sie ihr geliebtes Haus nicht verlassen wollte? Ihr Geist ruhte vielleicht nicht in Frieden, sondern grollte den Neuankömmlingen. Oder hatte sie vielleicht irgendeine Botschaft für Sadie? Jedes Quietschen, jedes seltsame Geräusch auf dem Dach jagte Sadie mehr und mehr Angst ein. Erlösung von den wilden Bildern ihres Gehirns kam erst in den frühen Morgenstunden, als sie schließlich völlig erschöpft einschlief; allerdings fiel sie sofort in einen beunruhigenden Traum.
In diesem Traum stand sie vor der Haustür des Poet’s Cottage, als diese plötzlich aufflog. In der Dunkelheit des Flurs war Kinderlachen zu hören.
»Mum?«, rief Sadie. »Mum?«
Sie trat ins Haus. Aus der Küche ertönte Musik, eine fröhliche Jazzmelodie. Auf dem Fußboden lag eine Puppe mit dreckverschmiertem Gesicht, deren Augen vor langer Zeit abgerissen worden waren. Salzwasserpfützen bedeckten die Dielenbretter.
Ich darf nicht hinsehen, wenn ich an der Küche vorbeigehe, dachte Sadie in ihrem Traum. Sie stand an der Kellertür und blickte die Stufen hinunter, gleichzeitig hörte sie ein Klopfgeräusch in der Küche. Aus dem dunklen Keller klang das schaurige Knurren eines wilden Tieres herauf. »Jack?«, rief sie. »Mum? Ist irgendjemand zu Hause?«
Etwas kam die Kellertreppe herauf auf sie zu gestürmt und sie spürte einen Druck gegen ihre Hüften wie von einem kleinen Kind, das sich an sie drängte. Ein Kind, das verzweifelt versuchte, vor einem wilden Tier zu fliehen. Er ist da drin! Der Stachelranken-Mann ist da unten!
»Mum. Mum!« Betty schüttelte sie. »Da ist jemand an der Tür.«
Sadie wachte auf, völlig
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