Dornentöchter
richtige Horrorfilm-Wetter. Sie ließ Wasser in den Kessel laufen. Dann hob sie den Blick und schrie vor Entsetzen auf: An der Wand direkt neben dem Wasserhahn saß die größte Riesenkrabbenspinne, die sie je gesehen hatte. Betty hätte sie beinahe berührt!
»Was ist los? Ist was passiert?« Thomasina kam mit angstvoller Miene in die Küche gerannt. Zitternd zeigte Betty auf die Spinne, woraufhin Thomasina nur große Augen machte.
»Mein lieber Scholli, das ist aber ein Prachtexemplar«, meinte sie. »Kam wahrscheinlich mit dem Regen rein.«
»Bring sie um! Kannst du sie bitte umbringen?«, flehte Betty sie an. »Mir ist fast das Herz stehen geblieben.«
Thomasina wirkte richtiggehend gekränkt. »Das arme kleine Ding da töten?«, rief sie. »Das ist auch eine von Gottes Kreaturen! Du solltest dich schämen. Ein großes Mädchen wie du hat Angst vor dieser kleinen Spinne! Wir bringen sie einfach wieder nach draußen, damit sie sich ein paar Fliegen und Käfer fangen kann.«
Betty versteckte sich hinterm Küchentisch und spähte zwischen den Fingern hindurch. »Igitt! Sie hat sich bewegt! Schlag mit irgendwas drauf! Mir wird schlecht! Bring sie um!«
»Himmel Herrgott!«, schimpfte Thomasina. Sie ignorierte Bettys Schreie, streckte die Hand nach der Spinne aus und ließ sie auf ihre alten, verkrümmten Finger krabbeln. »Komm schon, meine haarige Schöne«, gurrte sie. »Wir bringen dich besser mal nach draußen, bevor der große Angsthase da drüben dich in Stücke haut.«
Mit ausgestrecktem Arm ging Thomasina ins Freie, wo sie die Spinne sachte auf einem großen Blatt absetzte. Dann drehte sie sich nach Betty um, die inzwischen im Türrahmen stand. »Wie es aussieht, hast du die Feigheit deiner Großmutter geerbt. Marguerite hat sich jedes Mal in die Hose gemacht, wenn sie eine Spinne oder einen Wurm gesehen hat. Du tust mir leid!«
Betty musste ein Lächeln unterdrücken, als sie sich daran erinnerte, wie sehr Nannabella sich vor allem Krabbelgetier gefürchtet hatte. Sadie hatte sich immer Sorgen gemacht, ihre Mutter könnte sich irgendwann mal durch ihre regelmäßigen Kammerjägerbesuche und chemischen Sprays selbst vergiften. Offensichtlich hatte Marguerite ihre Kindheitsphobien nie abgelegt.
»Und du hast überhaupt keine Angst vor ihnen?«, wollte sie von ihrer Großtante wissen.
»Natürlich nicht!«, schnauzte Thomasina sie an. »Ihr Biss tut nicht weh – im Gegensatz zu dem der meisten Menschen, die ich kenne. Die verdammten Leute sind es, die ich nicht ausstehen kann. Lieber lebe ich in einem Haus voller Huntsman-Spinnen als voller Menschen.«
Ganz spontan fragte Betty: »Magst du einen Tee mit mir trinken? Ich hab gerade Wasser aufgesetzt.« Sie wollte nicht allein in die Küche zurück.
Thomasina wirkte überrascht. »Wenn du meinst«, erwiderte sie langsam. »Aber nicht da drin.« Sie wies mit dem Kopf aufs Poet’s Cottage.
Betty nickte. Nach dem, was Thomasina dort miterlebt hatte, war es ein Wunder, dass sie selbst hinten im Garten noch wohnen mochte.
»Warum kommst du nicht einfach mit zu mir?«, schlug Thomasina mit einem gackernden Lachen vor.
Betty begriff, dass ihre Großtante sie damit irgendwie herausforderte. »Okay, aber was für Teesorten hast du denn?«, erkundigte sie sich misstrauisch.
»Nichts von dem ganzen neumodischen Zeug, das du gewohnt bist, Fräulein, aber es ist ein anständiges Gebräu.« Thomasina marschierte davon und erwartete offenbar, dass Betty nachkommen würde.
Diese folgte ihrer Großtante durch den Garten in das winzige Steinhaus in der Hoffnung, der Tee würde nicht allzu grässlich schmecken. Irgendwie bezweifelte sie, dass Thomasina die Zitronenverbene-Mischung aufbrühen würde, die sie am liebsten trank. Doch vor allem hoffte sie, dass es dort keine Spinnen gab.
Sie hatte Pech. Einige große Exemplare hockten über Türrahmen und Wanduhren, worauf Thomasina sie vergnügt hinwies. »Sie leisten mir Gesellschaft und kümmern sich um die Insekten«, meinte sie.
Zu Bettys großer Erleichterung fasste Thomasina die Spinnen wenigstens nicht an, sondern machte sich in ihrer unordentlichen Küche daran, Teewasser zu kochen. Betty sah sich in dem Raum um, der ihr noch interessanter erschien als bei ihrem letzten kurzen Besuch, während ihre Großtante den Tee in einer braunen Kanne aufgoss. Auf dem Tisch lag ein Stapel alter Zeitschriften, eine davon war bei einem halbfertigen Kreuzworträtsel aufgeschlagen. Ein großer, offener Malblock zeigte ein
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