Dornentöchter
Bild mit wunderschön gezeichneten Feen und Elfen, die in einem Garten voller Gummibäume und australischer Blumen spielten. Daneben lag ein Notizbuch, in dem offenbar einige Zeilen einer Geschichte notiert waren. Betty konnte nur den Titel erkennen: »Das Auge der Elster«.
»Die Zeichnungen hier sind wunderschön«, staunte sie. »Und du schreibst auch? Du bist eine Netzespinnerin?«
Thomasinas Miene verdunkelte sich, und sie klappte das Notizbuch zu. »Ich spiele nur herum, um mir die Zeit zu vertreiben«, sagte sie. »Ich bin keine Netzespinnerin – was für ein unsinniger Begriff! Nur dieser durchtriebenen Birdie Pinkerton konnte ein solcher Name einfallen. Ich bin in keiner Weise wie meine Mutter. Ich habe sie gehasst.«
»Tut mir leid«, versuchte Betty sie zu besänftigen. Sie fühlte sich unwohl. Noch nie war sie einem Erwachsenen wie Thomasina begegnet. Die alte Frau schien sämtliche normalen Regeln gesellschaftlicher Etikette abgelegt zu haben und sprach einfach genau das aus, was sie dachte. Während sie an ihrem Tee nippte, behielt Betty eine große Spinne nahe der Küchenuhr misstrauisch im Auge. Das Gebräu war überraschend lecker. Als sie es lobte und nach den Zutaten fragte, zuckte ihre Tante bloß mit den Schultern und meinte, sie hätte eben ein paar Kräuter zusammengemischt.
So saßen sie eine Weile schweigend da, während Thomasina Bettys Gesicht betrachtete. »Du bist ein hübsches Mädchen. Hast du einen Freund?«
Betty erzählte ihr von Dylan, und Thomasina nickte. »Ich glaube, ich kenne ihn. Keine schlechte Familie. Und wie geht’s dir mit dem Haus?«
Ohne richtig zu wissen, weshalb, berichtete Betty ihrer schrulligen, exzentrischen Großtante von all den Dingen, die sie ihrer Mutter nicht hatte sagen können: von der beklemmenden Atmosphäre im Haus, den seltsamen Geräuschen spät am Abend, als würde jemand umhergehen, vom Gefühl, es wäre jemand in ihrem Zimmer gewesen, wenn sie heimkam. Vom Gefühl beobachtet zu werden – und von den Alpträumen, die sie hatte. Sobald sie einmal angefangen hatte, brach ein Strom von Worten scheinbar unaufhaltsam aus ihr heraus. Sie erzählte Thomasina von der Space-Clearing-Geschichte und der Gestalt, die Jackie angeblich im Keller gesehen hatte. Sie schilderte sogar ihr Entsetzen, als sie ihre Mutter beim Dorftanz draußen mit dem Zahnarzt erwischt hatte, und offenbarte ihre Hoffnung, dass ihre Eltern sich wieder versöhnen würden. Dann war da noch das Mobbing an ihrer alten Schule, ihre Magersucht und dass sie sich die Schuld für die Trennung ihrer Eltern gab. Sie beschrieb, wie es gewesen war, mit Sadie und Marguerite, die beide so perfekt und miteinander vertraut schienen, in Sydney aufzuwachsen – und im Schatten von Pearl. Marguerite, die stets so makellos war, hatte dauernd zwanghaft ihr blitzsauberes Haus geputzt, und Betty war oft aufgefallen, wie kritisch die alte Dame gegenüber allem Exzentrischen und Auffälligem war. Sie würde nie den enttäuschten Gesichtsausdruck ihrer Großmutter vergessen, als sie sich eines Winters die Haare kirschrot gefärbt und gescherzt hatte, sie würde sich auch ein Tattoo machen lassen. Anhand der wenigen Geschichten, die Betty von ihrer Großmutter gehört hatte, war ihr klargeworden, dass Pearl für Marguerite unantastbar war. Wie konnte irgendjemand auch nur hoffen, es mit der legendären Pearl Tatlow aufnehmen zu können? Und obwohl fast nie über Pearl gesprochen wurde, schien sie doch überall präsent zu sein, wie ein Dufthauch aus der Vergangenheit, der unterschwellig fast alle ihre Handlungen beeinflusste.
Thomasina hörte ihr geduldig zu, nippte an ihrem Tee und ließ Betty nicht aus den Augen. Als Betty schließlich kurz Luft holte, sagte sie: »Du tust dir gerne selber leid, was?« Ehe Betty protestieren konnte, fuhr sie fort: »Ich will damit nicht behaupten, du hättest es leicht. In Marguerites Umfeld aufzuwachsen muss mühsam gewesen sein – doch allen Widrigkeiten zum Trotz scheint deine Mutter ja durchaus eine halbwegs vernünftige Person geworden zu sein. Du selbst hast offensichtlich einen leichten Hang zu Dramatik und genießt das Trübsalblasen ein bisschen zu sehr. Dieses ganze Teenager-Theater … falls unsere verdammte Mutter sich immer noch drüben im Haus herumtreiben sollte, wirst du sie bald verscheucht haben, denn so was findet sie einfach nur langweilig!« Als sie Bettys verletzten Gesichtsausdruck sah, schenkte Thomasina ihr ein säuerliches Lächeln. »Ich
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