Dornentöchter
die Gegenwart. Es war, als wären die Schreie ihrer sterbenden Urgroßmutter immer noch in den Mauern von Poet’s Cottage eingeschlossen.
Da sie sich nicht aufs Lesen konzentrieren konnte, fuhr sie ihren Laptop hoch, um ihren Blog zu checken. Keine Kommentare. Zowie war offensichtlich zu beschäftigt, um sie weiterhin zu hänseln. Zowie, Brad und die Clique aus St. Catherine’s gehörten bereits zu einem anderen Leben.
Ich habe jemanden kennengelernt. Er ist cool und sieht richtig gut aus. Er ist Fischer, und seine Schwester ist inzwischen eine gute Freundin von mir. Auch sie ist total cool. Sie ist schon irre viel herumgereist, außerdem lernt sie Bauchtanz und hat einen Wahnsinnskörper. Ich glaube, sie ist der selbstbewussteste Mensch, den ich je getroffen habe. Ihr Bruder hat nach mir gefragt, seit ich hier angekommen bin, was wirklich unglaublich ist. Ich habe ihn erst gestern Abend bei einem Tanz im Scherschuppen kennengelernt. Er scheint sich für mich zu interessieren, denn er hat mich geküsst und –
Betty kaute auf ihrem Kugelschreiber herum und starrte versonnen auf den Bildschirm. Die Gedanken an Brad und Zowie brachten Gewissensbisse mit sich, weil sie nach Zowies letzter E-Mail so überreagiert hatte. Seit sie Dylan kennengelernt hatte, wollte Betty nämlich auf gar keinen Fall mehr aus Pencubitt weg. Und doch hatte sich ihr Vater nach ihrer Nachricht damals solche Sorgen gemacht, dass er alles stehen und liegen gelassen hatte und nach Tasmanien geflogen war. Noch dazu hatte sie ihre Mutter verletzt, indem sie sich hinter ihrem Rücken bei Dad ausgeweint hatte. Auch wenn Betty immer wieder ordentlich mit ihrer Mutter aneinandergeriet, so hasste sie die Vorstellung, ihr nach dem entsetzlichen letzten Jahr noch mehr Leid zugefügt zu haben.
Wenn sich nur ihre Eltern wieder ineinander verlieben würden. Warum konnte das Leben nicht einfach glatt verlaufen? Jackie war lieb und echt hübsch, aber ihre Eltern gehörten nun mal zusammen!
Wütend auf sich selbst, weil sie versucht hatte, ihre alten Klassenkameraden zu beeindrucken, markierte sie den Blog-Eintrag und löschte ihn. Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke – warum sollte sie nicht probieren, ihre eigene Geschichte zu schreiben? Vielleicht hatte sie das schriftstellerische Talent von ihrer Mutter und ihrer Urgroßmutter geerbt. In der Schule hatte sie Englisch immer gemocht. Begeistert machte sie sich daran, eine Geschichte über ein Mädchengymnasium zu entwerfen, in dem Engel und Zombies als Lehrer unterrichteten. Sie war gerade voller Elan dabei, sich eine unausstehliche Schülerin auszudenken (die Zowie ziemlich ähnlich war), als sie durch ein lautes Pochen unterbrochen wurde. Was um alles in der Welt war das? Betty ließ den Laptop aufgeklappt liegen und schlich sich mit klopfendem Herzen nach unten, wobei sie versuchte, kein Geräusch zu machen. Sie war jederzeit bereit, zurück nach oben in ihr Zimmer zu flüchten. Das Geräusch schien aus der Küche zu kommen. Betty verfluchte sich für ihre Angst, während sie auf Zehenspitzen hineinschlich, blieb dann aber erstaunt stehen, als sie sah, dass die Hintertür offen stand. Das Leben in Sydney hatte Betty gelehrt, stets auf Sicherheit bedacht zu sein: Auf gar keinen Fall wäre sie nach oben gegangen, ohne vorher die Hintertür zu verriegeln.
War das Klopfen Pearls Geist gewesen, der versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen? »Falls du das bist, Pearl, geh weg!«, flüsterte sie. »Geh ins Licht oder irgend so was, aber verlass dieses Haus.« Sie wartete. An der drückenden, beklemmenden Atmosphäre im Haus schien sich wenig zu ändern. Betty hatte von Toten gelesen, die zwischen den Welten gefangen waren. Vielleicht war das die Energie, die sie spürte? Möglicherweise versuchte ihre Urgroßmutter, mit ihr zu kommunizieren, das Geheimnis ihrer letzten Augenblicke zu lüften – oder versuchte sie etwa, Betty zu warnen? Betty schauderte. Dann kam ihr ein noch beängstigenderer Gedanke: In Die Netzespinnerin wurde Pearl nicht gerade als netter Mensch dargestellt. Was, wenn sie mit irgendeiner bösartigen Absicht durchs Haus spukte. »Jetzt reiß dich mal zusammen«, murmelte Betty. Sie konnte sich Zowies Häme vorstellen, wenn diese wüsste, dass Betty beim Gedanken an ein Gespenst in Poet’s Cottage zitternd in der Küche stand.
Zur Ablenkung ging sie an die Spüle, um Wasser aufzusetzen. Draußen ertönte ein lauter Donnerschlag, dann begann es zu regnen. Absolut perfekt. Genau das
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