Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Worten – er hat Jonassen erpresst?«
Er nickte nur. Erst nach einer längeren Pause kam: »Genau. Er – hatte ihn in der Hand.«
»Und er hat nie gesagt, was es war, worum es ging?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nicht einmal eine Andeutung?«
»Nein. Er nannte es Jonassen und seine Geschäfte. Aber das hätte auch nur eine Redensart sein können. Nur – er behielt den Job, stimmt’s? Egal, was … Also irgendetwas muss es ja gegeben haben …«
Ich nickte und war seiner Meinung. »Ja. Wenn man nur wüsste, was?«
»Aber Sie glauben doch wohl nicht – dass das etwas damit zu tun haben kann, dass …«
Ich zuckte mit den Schultern. »Darüber – weiß ich nichts. Noch nicht.« Aber es schien mir nicht unmöglich – und wenn es so war … Dann konnte das alles viel mehr sein als ein ganz gewöhnlicher Fall von Verschwinden.
Ich sagte: »Hör zu, Hasle. Überdenke noch mal alles, was Peter dir je erzählt hat. Hat er jemals von – einem Versteck gesprochen? Er – er brauchte sicher ab und zu Ruhe, oder jedenfalls einen Ort, wo er sich seine Spritzen setzen konnte. Zu Hause tat er es nicht.«
»Bei seinen Eltern?«
»Ja. Nein.«
»Er … Er hat öfter … Ab und zu – einige von diesen – Frauen waren ja verheiratet. Er hat sie manchmal in einem Hotel getroffen. Er hatte da eine Art Abmachung, hat er erzählt. Bezahlte etwas mehr als normal für das Zimmer, eine Art Prozente von den Einnahmen.«
»Aha. Und diese Hotels …«
»Tja. Ich weiß nicht, ob er immer noch – aber …«
»Welches Hotel war das?«
Er sagte mir den Namen. Es gab bessere Hotels und es gab auch schlechtere. Das heißt, wenn ich ein wenig nachdachte, dann gab es nicht viele schlechtere. Es war ein sehr liberales Hotel, das in vielen Fällen Fünfe gerade sein ließ. Es wäre in jedem Fall den Versuch wert, denen dort einen Besuch abzustatten – sie würden wohl auch mich nicht gleich rauswerfen.
Ich sagte: »Okay. Ich danke dir. Du hast vieles klargestellt.« Ich leerte meine Tasse und stand auf.
Er stand auch auf und folgte mir an die Tür. Fast dort angekommen sagte er: »Äh … Veum?«
Ich drehte mich um. »Ja?«
»Eine etwas merkwürdige Frage vielleicht – aber … Haben Sie schon mal jemanden geliebt – und sind nicht wiedergeliebt worden?«
Einen Augenblick stand ich da und sah ihn an: ein mageres Gesicht, Haare voller Schuppen, blaugrüne Augen und ein weicher, sensibler Mund. Auf seiner Stirn eine fragende Falte, und seine Augen wirkten hilflos und verloren. Er hatte allzu viele Bücher gelesen und viel zu viele Stunden in geschlossenen Räumen verbracht.
Ich sagte: »Wer hat das nicht?«
In sein Gesicht kam wieder Ruhe. Die Frage verschwand daraus und nur die Erschöpfung, die Schlaflosigkeit blieb hängen: Er sagte: »Stimmt. Sie haben recht. Sie haben recht. Tja …« Dann reichte er mir seine rechte Hand. »Danke für Ihren Besuch.«
Ich nahm seine Hand und sagte: »Ich danke dir.« Dann hob ich die Hand zum Gruß an die Stirn und ging hinaus. Ich begegnete niemand im Flur und auch nicht im Treppenhaus.
Draußen auf dem Bürgersteig schlug mir wieder die Hitze entgegen. Ich wusste nicht recht, wohin ich gehen sollte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben, nichts war mehr eilig. Seine stillen Fragen konnte man immer stellen, aber niemand konnte einem eine Antwort garantieren.
15
Das Hotel lag nicht weit entfernt, aber ich ging absichtlich einen Umweg. Ob ich um zwei oder um drei Uhr dort ankam, spielte keine Rolle.
Es war einer der heißesten Tage des Jahres geworden. Das Thermometer kroch langsam auf die 30-Grad-Marke zu.
Ich dachte über die Einsamkeit nach.
Diese ersten, brütend warmen Sommertag haben eine ganz besondere Atmosphäre. Plötzlich schien die Stadt voller schwangerer Frauen zu sein. Voll schwangerer Frauen, junger Frauen – und verliebter Paare.
Hinten am Geländer von Vågen stand eine Frau in meinem Alter, nicht so gut in Form wie Irene Jonassen vielleicht, aber für meinen Geschmack hübsch genug. Sie hatte zarte, graue Strähnen in ihrem dunkelblonden Haar, Falten von vergessener Trauer im Gesicht, und sie stand da und pulte Krabben. Sie sah über das Wasser hinaus, ließ die Krabbenschalen verträumt ins Wasser fallen, steckte die weißen frischen Krabben zwischen die Lippen.
Ich hätte zu ihr gehen und ihr meinen Namen sagen sollen. Aber das schaffe ich nie. Ich gehe vorbei, lasse ihr Bild tief in mich einsickern, wo es liegen bleibt und noch
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