Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
dorthin kam mir vor wie in einem veralteten Notizbuch rückwärts zu blättern. Der Teppich war in der Mitte ausgetreten, und das war das Positivste, was man über ihn sagen konnte. Es hing ein Geruch von Vergessenheit und altem Schmutz im ganzen Korridor.
Ich blieb vor der Nummer 219 stehen und legte das Ohr an die Tür. Kein Laut war zu hören. Ich ließ die Hand zur Türklinke sinken und testete, ob abgeschlossen war. Die Tür war offen.
Ich klopfte vorsichtig an. Niemand antwortete.
Also öffnete ich vorsichtig die Tür einen Spalt und horchte in das Zimmer hinein. Noch immer kein Laut. Ich öffnete die Tür ganz. Niemand kam mir mit der Axt entgegen, also wagte ich einzutreten.
Wie die meisten Zimmer in diesem Hotel war auch dieses ziemlich klein. Sie waren vorausschauend genug gewesen, ihm eines mit Fenster zum Hinterhof zu geben, aber eines zur Straße hätte im Grunde keinen Unterschied gemacht, denn die Fensterscheiben waren so schmutzig, dass es aussah, als seien sie übermalt.
Die Einrichtung war sparsam, auf dem kleinen Tisch stand ein überfüllter Aschenbecher – so voll, dass die Hälfte der Tischplatte auch schon seit einiger Zeit als Aschenbecher gedient hatte. Über einem Stuhl hingen eine Jeans, ein T-Shirt und eine Lederjacke. Auf dem Boden davor lagen ein Paar Strümpfe, ein brauner Morgenmantel und eine grüne Unterhose. Unter dem Waschbecken in einer Zimmerecke standen die Schuhe: flach, Typ Mokassins.
Das Bett war das einzige im Zimmer, was einigermaßen geräumig wirkte. Es war ein Einzelbett, aber breit und brauchbar für das, was die Gäste dieses Hotels meistens vorhatten. Die Bettdecke war groß und oft benutzt, und jemand hatte sie ganz über das Bett gezogen, wie um sich darunter zu verstecken.
Ich trat zum Bett, griff nach dem oberen Zipfel der Decke, zog sie zurück und rief: »Buh!«
Beinahe hätte ich mich dabei selbst umgebracht. Die Pumpmaschine in meiner Brust stand für ein oder zwei Sekunden mucksmäuschenstill. Ich atmete schwer durch die Nase, und mein Mund fühlte sich an, wie im Schnellverfahren trocken gereinigt. Unter der Decke lag Peter Werner.
16
Es heißt, dass im Augenblick des Todes das ganze Leben Revue passiert. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich bin noch nicht so oft gestorben. Aber ich habe in meinem Leben schon vor einigen Leichen gestanden, und dann flimmern jedenfalls Bilder vorbei, wie eine Art Revue: flackernde, undeutliche Bilder, die vorbeirasen und sofort wieder verschwunden sind, und manche ganz klar, die man für den Rest seines Lebens nicht mehr vergisst.
Ich hatte Peter Werner noch nie gesehen, und die Bilder, die vorbeizogen, waren von anderen.
Ich sah Lisa, auf einem Bett in Kopenhagen, ohne einen Fetzen am Leibe; und wie sie im Flugzeug saß und schmollte; aber vor allem stellte ich sie mir vor, ein paar Jahre vorher, jünger und unverletzt und frisch verliebt in – Peter Werner. Ich sah sie vor mir, wie sie auf der Bank hinter dem Haus saßen. Und dann plötzlich: die Eltern.
Ja, die Eltern. Ich sah Lisas Eltern vor mir, und dann Peters. Niels und Vigdis Halle: er mager und fast weißhaarig, mit krummem Nacken und niemals ruhender Kiefermuskulatur; sie klein, grau, mit einem weichen und nachgiebigen Gesicht, das sowohl Leid als auch Vergebung kannte.
Håkon und Vera Werner: Ich hörte ihn mit Fistelstimme ihren Namen sagen und begriff, dass er doch nicht ihr Hund war, obwohl sie breit und schwer genug gewesen wäre, um sein Ringkampftrainer zu sein.
Und wieder war ich in einem von Halles drei Wohnzimmern, wieder spürte ich die angespannte Stimmung zwischen den vier Menschen, wie bei einem zufälligen Treffen auf einem Marktplatz von Verona zwischen den Ehepaaren Capulet und Montague. Und dann plötzlich mitten unter ihnen: Julia. Und Romeo war verschwunden. Aber er war nicht ins Kloster gegangen, das wusste ich jetzt. Und ich – ich war der ewige Horatio, der neben Leichen steht und nach Worten sucht. Aber er findet sie nie, denn der Rest ist immer Schweigen.
Lisa flimmerte wieder vorbei, der Kreis war geschlossen. Zweimal hatte ich ihre Maske zerspringen sehen und die Verletzbarkeit dahinter erkannt. Verletzbarkeit und Verzweiflung – und einmal hatte sie plötzlich an meiner Brust geweint.
Ich war wieder zurück im Hotelzimmer. Mein Blut zirkulierte, meine Nasenflügel weiteten sich, meine Augen begannen sich durch den Raum zu tasten. Er war schon eine ganze Weile tot. Ich berührte vorsichtig seine Stirn. Sie war eiskalt.
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