Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Hausbesitzer werden nicht gerade arm dadurch, was? Wie hoch ist die offizielle Miete – fünfhundert?«
»Zweihundertundfünfzig, aber wir bezahlen …«
»Fünf?«
»Sechs.«
»Sechs? Das sind ja …« meine Kopfrechenkünste reichten nicht aus.
»Das ist ganz schön viel, ja.«
»Um die dreizehntausend im Monat.«
»Ungefähr. Aber irgendwo muss man ja wohnen, und es gibt viel teurere Zimmer. In der alten Speisekammer ist eine Duschkabine, und wir haben ja keine Fahrkosten zur Universität.«
Wir waren in seinem Zimmer angekommen. Es war mittelgroß, in einer Ecke stand ein Diwan, auf dem eine Wolldecke gleichgültig über das Bettzeug geworfen war. In einer anderen Ecke, unter einer grellen Leselampe, stand ein Schreibtisch. Dort lagen mehrere aufgeschlagene Bücher und ein Haufen Papier. Auf dem Boden neben dem Schreibtisch stand eine tragbare Schreibmaschine in einem feuerroten Koffer. Fast zwei Wände waren von Bücherregalen voller Bücher, Zeitschriften, Vorlesungsheften und Ringbuchordnern bedeckt. An einer Wand hing das etwas amateurhafte Porträt eines schönen Männergesichts, das ein romantisches Bild von Bjørn Hasle selbst ohne Schnauzbart hätte sein können.
Er stand ein wenig unbeholfen am Fenster und lächelte leicht: »Die Aussicht.«
Ich betrachtete die Aussicht. Durch das eine Fenster sah man auf einen tiefen, engen Hinterhof und direkt in die Fenster und auf die Feuerleiter eines entsprechenden Hauses gegenüber. Da Bjørn Hasle hoch oben im zweiten Stock wohnte, konnte man auch ein Stückchen blauen Himmel über dem Dach des gegenüberliegenden Hauses erkennen.
Er sagte: »Setzen Sie sich. Möchten Sie einen Tee – soll ich Wasser aufsetzen?«
Ich sagte: »Ja, vielleicht. Im Süden trinken sie heißen Tee, wenn es draußen heiß ist. Das hilft gegen den Durst.«
»Ist es heiß draußen?«, fragte er desorientiert, als sei er seit ein paar Jahren nicht mehr in diesem Land gewesen.
»Der erste richtig heiße Sommertag in diesem Jahr.«
»Ach ja?« Er verschwand in die Küche. Die Tür hinter sich ließ er angelehnt.
Mit den Händen in den Taschen ging ich mir den Inhalt seiner Bücherregale ansehen. Er studierte offensichtlich Sprachen – Deutsch und Englisch – und Literaturwissenschaft. Außerdem interessierte er sich für Film. Er besaß eine reiche Auswahl von Heiligenbiographien, die alle Filmliebhaber aus irgendeinem Grunde sammeln – Humphrey Bogart, James Dean, Marlon Brando und Marilyn Monroe, weiterhin Bücher über so unterschiedliche Regisseure wie Luis Bunuel und Billy Wilder, geschichtliche Übersichtswerke über Western und Horrorfilme – und eine reiche Auswahl an Büchern über und von Bob Dylan. Auf dem untersten Regalbrett stand der Plattenspieler, auf dem obersten die Lautsprecher. Die Plattensammlung war umfangreich.
All das war nicht im Geringsten Aufsehen erregend. Es war eine ganz gewöhnliche Studentenbude nach dem Modell des letzten Jahrzehnts.
Ich betrachtete wieder das Porträt, das einzige Bild im ganzen Raum. Als er zurückkam, wies ich darauf und fragte: »Bist du das?«
Er nickte kurz und sah stolz und beschämt zugleich aus. »Ein Kumpel von mir hat es – einmal gemalt.«
»Es ist – ein paar Jahre alt.«
»Ja. Können Sie das erkennen?«
»Dir fehlt der Schnauzer.«
»Ach, ja.« Er hob die Hand automatisch zu seinem Schnauzbart, wie um sich zu versichern, dass er nicht abgefallen war. »Aber – setzen Sie sich … der Tee ist gleich fertig. Was haben Sie vorhin gesagt – Peter ist … verschwunden?«
Ich setzte mich in einen der Sessel. »Ja.«
»Hmm.« Der Ton kam kurz und unerwartet, wie ein halb ersticktes Bellen, und ich war mir nicht sicher, was er ausdrücken sollte: Erstaunen oder Ärger?
Ich sagte: »Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte?«
Er antwortete nicht direkt und sah auf den Boden. »Wir haben nicht mehr so viel Kontakt.« Sein Blick stieg wieder herauf, an mir vorbei und bewegte sich durch den ganzen Raum. »Es ist ziemlich lange her, seit er zuletzt hier war.«
»War er früher – oft hier?«
Er stand auf, mit eckigen und nervösen Bewegungen. »In letzter Zeit nicht mehr. Einen Moment, ich geh nur mal nachsehen, ob der Tee …« Er beendete den Satz nicht, sondern ging hinaus.
Ich saß da und betrachtete das Porträt. Die Farben stimmten: die Haut blass, aber damals mit einem Hauch von Rosa auf den Wangen und um den Mund herum, das Kinn weicher, das Haar etwas länger und
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