Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
amerikanischen Krimi der vierziger Jahre entsprungen sein können. Aber es entsprach der diesjährigen Mode.
Ich sagte: »Tut mir Leid, falsches Jahrzehnt. Falsches Büro. Und falscher Detektiv!« Ich versuchte zu lispeln, wie Bogart es getan hätte, aber ich war eine schlechte Kopie, und sie ging auf jeden Fall über Ingelins Horizont.
»Wo bleiben Sie denn, Veum?«, sagte sie affektiert. »Ich warte hier schon seit mehreren Stunden!« Sie seufzte und sah resigniert auf die verstaubten Stapel alter Wochenzeitschriften. Dabei war ihr Gesichtsausdruck echt.
Ich grub in meinen Taschen nach dem Büroschlüssel. »Ich war unterwegs – geschäftlich.«
Ich fand den Schlüssel, schloss die Bürotür auf und blieb abwartend in der Türöffnung stehen. »Bist du gekommen, um mit mir zu reden – oder bist du zum Fasching unterwegs und wolltest mir dein Kostüm zeigen?«
Sie errötete leicht unter der Schminke und sah rasch an sich herunter. »Gefällt es dir nicht?« Atemlos wartete sie auf meine Antwort. Als keine kam, fuhr sie fort: »Das war, damit mich niemand erkennen sollte.«
»Da besteht keine Gefahr,« sagte ich süßsäuerlich. »Na komm.«
Ich ging ihr voraus ins Büro, machte das Licht an, versuchte so zu tun, als sähe ich die Staubschicht auf der Schreibtischplatte nicht und stellte mich ans Fenster, das Licht im Rücken. »Hier wohne ich,« sagte ich.
Ihr Blick war nicht ganz so kritisch wie der ihrer Mutter ein paar Stunden zuvor gewesen war. Er war eher fragend – erwartungsvoll vielleicht – jedenfalls neugierig. Der Unterschied zwischen einer Frau über fünfzig und einer Frau unter zwanzig.
Sie sah mich an. Ganz plötzlich wirkte sie angespannt. Ihre Stimme war dünn, als sie sagte: »Haben – haben Sie eine Zigarette?«
Ich hörte die Brutalität in meiner eigenen Stimme, als ich sagte: »Nein, aber ich habe eine Flasche Aquavit, wenn du probieren möchtest.« Es war schon spät, und die Leute hatten mich angeschrien, ein Mädchen in ihrem Alter hatte mir mit ihren Fäusten ins Gesicht geschlagen, ich konnte also gut einen Tropfen gebrauchen.
»N-nein, danke,« sagte sie und schaute mich verwirrt an.
»Hast du was dagegen, wenn ich einen nehme?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ich ging zum Schreibtisch und zog die Flaschenschublade heraus. Dann holte ich mir ein Wasserglas vom Waschbecken und goss mir eine gute Portion klaren Aquavit ein. Ich nahm einen kräftigen Schluck. Er schmeckte wie welkes Gras, und ich bedauerte es sofort. Ich ließ das Glas vor dem Spiegel stehen und ging zum Schreibtisch zurück, setzte mich auf meinen Platz und wies Ingelin auf den Stuhl mir gegenüber. »Setz dich und beruhige dich,« sagte ich, und meine Stimme war jetzt weicher. »Was wolltest du von mir?«
Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr Aufzug perfekt war. Es fehlte nicht einmal die schmale, schwarze Handtasche, und sie hantierte mit dem Verschluss. Dann steckte sie eine schmale, weiße Hand hinein und zog einen kleinen Stapel abgegriffener, alter Briefumschläge hervor. Die Briefe wurden von einem graubraunen Gummiband zusammengehalten, und zumindest auf dem oberen stand kein Name.
Sie saß da mit dem Stapel in der Hand, als zögerte sie noch. »Ich …«
»Ja?« Meine Stimme klang jetzt sehr höflich und sehr liebenswürdig.
»Ich wollte, dass Sie – das hier sehen.« Mit einer entschlossenen, abrupten Bewegung reichte sie mir die Briefe ohne weiteren Kommentar.
Ich nahm sie entgegen, wog sie schnell in der Hand, sah, dass es ungefähr zwanzig, dreißig Umschläge waren, alle säuberlich mit einem Brieföffner an der oberen Längsseite geöffnet.
Ich nahm den Stapel, wählte willkürlich einen Brief aus, zog die zwei zusammengefalteten Bögen aus dem Umschlag und las sie schnell durch, während ich Ingelins intensiven Blick auf meinem Gesicht spürte.
Es war ein Liebesbrief, von einem Mann an eine Frau. Es war ein ziemlich leidenschaftlicher Brief, obwohl ein paar Sätze ziemlich klischeehaft wirkten. Die Schrift war zügig und maskulin. Abgesehen von den Klischees war der Stil untadelig. Es stand kein Name in dem Brief, weder am Anfang noch am Ende. Er begann mit: Meine Geliebte! – und endete mit: Für immer Dein …
Ich sah fragend auf. Sie sah zu Boden und errötete wieder. Nur die Kleidung war von ihrer Maskerade noch übrig.
Sie sagte – zum Boden: »Später – später schreibt er von dem Ki-kind, das sie erwartet. Er – er schreibt, dass er sie über alles auf der Welt liebt, aber
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