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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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erinnern, dass ich mir einen neuen Kurs überlegen musste, eine neue Richtung in meinem Leben, dass ich etwas tun musste. Ich schloss die Tür ab und ging.
    Ich entschied mich für die Zeitungen und kaufte an einem Kiosk mitten auf der Torgalmenning einen ganzen Stoß. Dann bestellte ich mir ein billiges Essen in einem Lokal, wo sie Bier verkauften. Ich trank zwei Halbe in eineinhalb Stunden und las die Hälfte der Zeitungen durch.
    Auf dem Weg nach Hause überquerte ich den Marktplatz. Es war die stille Stunde, bevor der Abendverkehr einsetzt. Die Fegemaschine war verschwunden, der Mann von der Stadtreinigung auch. Nur große Pfützen und Streifen von Schaum hatten sie hinterlassen.
    Ich ging Skansesvingene ganz hinauf bis zur Skansen Feuerwehrwache, suchte mir einen Platz auf einer der Bänke dort und las noch ein paar Zeitungen durch. Das Wetter war mild und grau mit hellen Flecken in der Wolkendecke. Draußen auf dem Fjord fiel die Sonne in schmalen Streifen auf das Wasser. Mitten durch einen Streifen schob sich langsam die Askøy-Fähre auf dem Weg zu der Inselwelt dort draußen. Über die Kuppe des Lyderhorns strich ein großes Düsenflugzeug in Richtung Flughafen.
    Später ging ich meine Gasse hinunter. Unten auf einem Platz zwischen ein paar weißen Holzhäusern spielte eine Horde kleiner Mädchen ein Ringspiel. Sie sangen mit hellen Mädchenstimmen, so klirrend falsch und echt, wie es nur Kinder in dem Alter können, und ich ging langsam an ihnen vorbei, während ich der Geräuschkulisse aus meiner eigenen Kindheit lauschte:
    Dornröschen schlief wohl hundert Jahr,
    hundert Jahr,
    hundert Jahr,
    Dornröschen schlief wohl hundert Jahr,
    hundert Jahr!
    In Hosen und Röcken, mit kurzen Strickjacken und Blusen, die ihnen um den Bauch schwangen, mit Haaren, die um sie herum tanzten, rot, blond und fast schneeweiß, sangen sie:
    Da wuchs die Hecke riesengroß,
    riesengroß,
    riesengroß,
    da wuchs die Hecke riesengroß,
    riesengroß.
    Ich blieb stehen, mit einem benommenen Gefühl, einer plötzlichen Müdigkeit: dem Gefühl, das alle Erwachsenen haben, wenn sie kleine Kinder unbekümmert spielen hören, ihre unschuldigen, sinnlosen Lieder zum Himmel singen hören – ohne Wissen um all den Liebeskummer, alle Nöte, all die Sehnsucht und den Verlust, der vor ihnen lag – Kinder, die unbekümmert singen:
    Da kam ein junger Königssohn,
    Königssohn,
    Königssohn,
    da kam ein junger Königssohn,
    Königssohn.
    Als ich weiterging, verlor sich der Gesang hinter mir – aber sein klarer Klang sang in meinem Inneren weiter, und die Worte kamen zurück, immer wieder, auch als ich es mir schon längst auf dem Sofa bequem gemacht hatte, mit einem neuen Schnaps und den allerletzten Zeitungen des Tages – wieder und wieder: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr, hundert Jahr, hundert Jahr, Dornröschen schlief wohl hundert Jahr, hundert Jahr!
     
    Ich wurde aus dem Schlaf gerissen. Das Telefon klingelte. Ich schaute mich verwirrt um, sah das halb volle Glas, die leere Flasche, die Zeitungen, die verstreut auf dem Tisch und auf dem Fußboden lagen, die Dunkelheit hinter den Fenstern … Der Aquavit hatte in meinem Mund einen Geschmack von Gras hinterlassen, und es knirschte in meinen Augen, wenn ich sie auf- und zumachte. Ich sah schnell auf die Uhr, während ich mühsam meine Füße auf den Boden schwang. Das Telefon klingelte. Halb eins! Ich war eingeschlafen – ich musste schon …
    Aber wer zum Teufel rief mich um halb eins in der Nacht an?
    Ich stapfte ins Schlafzimmer, wo das Telefon stand. Kaum hatte ich den Hörer abgenommen, ich konnte nicht einmal Hallo sagen, war Lisas Stimme in meinem Ohr: »Veum?« Es war eine hohe und dünne Stimme voller Angst. »Ich muss mit dir reden! Ich werde dir alles erzählen, ich muß einfach, aber, verstehst du, es ist so schwierig, und – und …«
    Ich sagte schnell: »Hör zu, mach keine – wo bist du, Lisa?« Das tickende Geräusch des Telefonautomaten hing wie das eines Metronoms über ihren Worten.
    Ihre Stimme war jetzt noch schriller: »Oh Gott! Ich – ich bin hier unten in der Telefonzelle am Bahnhof, aber – aber jetzt sehe ich – jetzt … Kann ich zu dir nach Hause kommen – wo …«
    »Lisa!« rief ich, als könnte ich sie direkt erreichen, ohne das Telefon dazwischen, aber es war zu spät. Die Verbindung war unterbrochen. Sie hatte den Hörer aufgeknallt – oder …
    Ich sah mich verzweifelt um. Als ich ins Wohnzimmer stolperte, warf ich einen Stuhl um. Gott sei

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