Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
gut,« sagte ich. »Ich hatte schon immer eine Schwäche für Frauen aus den Vierzigerjahren. Geh nach Hause und lies ein bisschen Sartre. Das bringt dich vielleicht ein Jahrzehnt weiter. Ruf mich in ein, zwei Tagen an, dann kann ich dir eine klare Auskunft geben. Okay?«
Sie nickte. Ich blieb hinter dem Schreibtisch stehen. Es hatte keinen Sinn, ihr nachzugehen. Vielleicht glaubte sie, dass junge Damen in Detektivbüros immer geküsst werden. Das war nicht der Fall, aber es wäre dumm gewesen, das Schicksal zu versuchen. Ich winkte sie zur Tür hinaus und blieb stehen und lauschte ihren Schritten. Ich hörte, wie sie das Wartezimmer durchquerte, die Tür hinter sich schloss und den Korridor entlangging. Erst dann wagte ich es, die Tür zwischen dem Büro und dem Wartezimmer zu schließen.
35
Ich trat ans Fenster und sah nach draußen. Es war Spätnachmittag geworden. Das Licht veränderte sich nicht sehr in dieser Jahreszeit, es kam nur aus einem etwas anderen Winkel. Aber unten auf dem Marktplatz hatten die Händler ihre Stände eingepackt, ein Mann von der Stadtreinigung spülte den Asphalt mit einem kräftigen Schlauch ab, und eine Fegemaschine schob den Abfall vor sich her. Auf der anderen Seite von Vågen schob sich die unvermeidliche Autoschlange langsam in Richtung Åsane voran.
Ich starrte aus dem Fenster, ohne eigentlich irgendetwas zu sehen. Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Es wurden langsam ziemlich viele Puzzleteile. Etwas zu viele.
Peter Werner hatte allem Anschein nach Arve Jonassen erpresst – wegen Jonassens zweifelhafter Transaktionen auf dem Baumarkt. Gleichzeitig hatte er zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Verhältnis mit Irene Jonassen gehabt. Das gab Jonassen zwei gute Gründe, Peter Werner einen modischen Anzug aus weiß lackiertem Holz zu wünschen. Und er hatte einen guten und treuen Handlanger in Karsten Edvardsen, dem ehemaligen Fremdenlegionär.
Aber nun stellte sich heraus, dass Peter Werner auch jede Möglichkeit hatte, Niels Halle zu erpressen, während gleichzeitig seine Beziehung zu Lisa nicht gerade große Begeisterung bei ihren Eltern ausgelöst hatte, um es milde auszudrücken. Damit hatte auch Niels Halle zwei gute Motive, um sich Peter Werner tot zu wünschen.
Lisa und Bjørn Halse waren die Verlierer in diesem Spiel. Konnte ihre Enttäuschung Grund genug gewesen sein, um …
Und Ingelin, die Schwester – war sie so unschuldig, wie sie tat – und zu sein schien?
Und wer war die mysteriöse andere Frau, die ihn an dem Tag, an dem er starb, besucht hatte? Hatte sie überhaupt etwas mit dem Ganzen zu tun, außer dass sie eine von vielen in Peter Werners offensichtlich endloser Reihe von Liebhabern und Liebhaberinnen war?
War es eine Frau, die ihn getötet hatte – oder war es ein Mann gewesen?
Und was konnte ich noch tun, um das herauszufinden?
Niels Halle hatte gewünscht, mich morgen in seinem Büro zu sehen. Sollte ich ihn direkt fragen, ob Peter Werner ihn erpresst hatte, und an wen er diese Briefe geschrieben hatte? Was Letzteres betraf, so war ich mir ziemlich sicher, die Antwort zu kennen, aber dennoch …
Unerbittlich war ich viel weiter in diesen Fall hineingezogen worden, als ich gewollt hatte. Sollte ich jetzt aufhören und mich herausziehen?
Ich sah zum Telefon. Ich könnte Vadheim anrufen, ihm alles erzählen, was ich wusste und den Fall denen überlassen, die davon lebten, solche Fälle aufzuklären, der Polizei.
Ich setzte mich wieder hinter den Schreibtisch, holte die Flasche hervor und schenkte mir noch einmal ein.
Ich spürte deutlich: Dies war einer von den Tagen, die gegen vier Uhr nachmittags dahinsterben. Es blieben noch viele helle Stunden, bis es dunkel werden würde. Was sollte ich tun? Zeitungen kaufen und sie von der ersten bis zur letzten Seite lesen? In die Fünf-Uhr-Vorstellung gehen und mir einen Tarzan-Film ansehen? Mich besaufen?
Es war zu spät um – Solveig Manger anzurufen. Ab und zu spielte ich mit dem Gedanken: sie anrufen, mich für unser letztes Treffen bedanken, fragen, ob sie wirklich einen Kaffee mit mir trinken wollte, wie sie gesagt hatte. Dasitzen und stumm sein und ihr zuhören. Aber sie hatte so schon genug Probleme. Warum sollte ich ihr noch mehr bereiten?
Ich leerte langsam mein Glas, stand auf, zog meine Jacke an und machte das Licht aus. Ich legte die Flasche wieder in die Schublade, aber das Glas ließ ich auf dem Schreibtisch stehen. Dann konnte es mich morgen früh anklagend ansehen und mich daran
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