Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
abrupt auf. Der Stuhl fiel hinter ihr um. Tränen sprühten aus ihren Augen. »Frag nicht mehr!«, heulte sie. »Frag nicht, frag nicht, frag nicht! Mich hat er geliebt, mich, mich, immer mich, es war nicht – er konnte nicht – er hätte mich nicht verlassen sollen, wegen jemand anderem, nicht wegen – das war einfach abartig, er hat doch mich geliebt und nicht – nicht – so was Widerliches und Ekelhaftes – und – und …« Sie sah sich verzweifelt um.
    Auf dem Schreibtisch hinter ihr lag ein Buch. Sie griff danach und warf es nach mir. Ich duckte mich, und es traf mit einem Knall die Wand. Ich stand auf, und sie kam auf mich zugeschossen. Ihre kleinen, harten Fäuste trommelten gegen mein Gesicht. Ich versuchte sie zu bremsen, griff nach ihren Gelenken und bekam das eine zu fassen. Mit der anderen Faust traf sie hart und gezielt meine Nase ganz oben, mitten zwischen den Augen. Ich wurde blind von Tränen und versuchte sie mit der einen Hand auf Abstand zu halten, mit der anderen Hand schützte ich mein Gesicht.
    Die Tür ging auf, und ich hörte Niels Halles Stimme hinter mir: »Was ist denn hier los? Lisa! Veum?«

32
    Niels Halle packte Lisa an den Schultern und zog sie von mir weg. Dann nahm er sie in den Arm. »Was tun Sie hier, Veum?«, bellte er.
    Hinter ihm sah ich Vigdis Halle und die freundliche Krankenschwester mit dem grauen Haar.
    »Ich wollte nur – hören, wie es Lisa geht,« sagte ich.
    Lisa weinte heftig in den Armen ihres Vaters. Ihre Mutter stand daneben und in ihrem Gesicht tobten die Gefühle wie schäumende Wellen auf einem unruhigen Meer. Die Krankenschwester sagte: »Ich werde den diensthabenden Arzt holen. Sie bekommt etwas zur Beruhigung. Ich hatte keine Ahnung …«
    Niels Halle sah erst seine Frau und dann mich an. Die Muskeln in seinem Gesicht verknoteten sich. Seine Augen waren irritierend hell und blau. Er sagte: »Geht ihr raus. Ich mach das hier schon.«
    Vigdis Halle atmete heftig durch und streckte eine Hand aus. Dann presste sie die Lippen zusammen, drehte sich um und ging vor mir aus dem Zimmer. Ich schloss die Tür hinter uns. Hilflos standen wir in dem langen Korridor. Sie wandte mir ihr müdes, rundes Gesicht zu und sah mich aus dunklen Augen an, in denen neue Tränen schimmerten. »Das ist schon früher passiert,« sagte sie leise. »Sie ist zu uns auch so. Ab und zu bekommt sie solche Wutausbrüche. Ich begreife es nicht …«
    Sie hielt inne. Nach einer kleinen Pause sagte ich vorsichtig: »Sollten Sie nicht auch da drinnen sein?«
    Sie bekam einen bitteren Zug um den Mund. »Er hat sie immer besser im Griff gehabt.« Dann schien eine Hand über ihr Gesicht zu streichen, und plötzlich flammte sie auf, mit einem Temperament, das ich bisher nicht bei ihr gesehen hatte. »Er hat immer eine ganz eigene Fähigkeit mit – anderen Frauen gehabt. Nicht einmal meine eigene Tochter hat er mir lassen können! Ab und zu … ab und zu war das fast nicht auszuhalten.«
    Ich sah sie an. Was ich erfahren hatte, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, machte es mir leichter zu verstehen, was sich hinter diesem verweinten Gesicht verbarg. Eine lieblose Ehe, ein Ehemann, der schon früh andere Frauen hatte, eine Tochter mit sinnlosen Wutanfällen, andere Kinder, die längst aus dem Haus waren. Manche Frauen brechen in diesem Stadium plötzlich und unerwartet aus, aber die meisten bleiben auf ihrem Posten, mit müden und ausgemergelten Gesichtern, voller unverkennbarer Trauer – so wie Vigdis Halle.
    »Ich verstehe«, sagte ich.
    »Wirklich, Veum? Tun Sie das wirklich?«, stieß sie fast anklagend hervor.
    Eine Frau in einem groß geblümten, wattierten Morgenmantel ging vorbei, das Haar voller Lockenwickler, ein Strickzeug in der Hand, mit einem Blick, der uns mit Haut und Haaren auffraß. Ihr Gesicht war aufgedunsen, vergrößert und verändert durch die Medikamente. Sie gab im Vorbeigehen leise Kommentare ab. Bevor sie weiter hinten im Korridor um eine Ecke bog, sah sie sich plötzlich noch einmal um.
    Das Tageslicht fiel blass auf den gebohnerten, glänzenden Fußboden. Es roch nach Putzmitteln.
    Vigdis Halle hatte den gleichen blaugrauen Mantel an, den ich schon kannte. Darunter trug sie einen dunkelbraunen Rollkragenpullover. Im Licht der großen Fenster zeichneten sich ihre Falten im Gesicht ab wie Spuren in weichem Sand. Sie verwendete keine Schminke, nur eine dünne Schicht violetten Lippenstifts. Es sah aus, als ob sie fror.
    Die Tür zu Lisas Zimmer ging auf. Niels Halle

Weitere Kostenlose Bücher