Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
der Teufel hinter ihr her?«
»Ja! Als hätte sie Todesangst, als sei jemand hinter ihr her. Sie hat sich überhaupt nicht umgesehen! Deshalb …«
Als sei jemand hinter ihr her … Ich sah mich um, sah die Menschen um uns herum an, all die blassen, neugierigen Gesichter, die sich um diese kleine Tragödie zusammendrängten, die sie mit nach Hause nehmen konnten, um sich daran zu erinnern, wenn die Nacht zu lang werden würde.
War es vielleicht eines dieser Gesichter?
Die Leute von der Kripo kamen. Wir standen nicht viel mehr als hundert Meter vom Polizeihaus entfernt, deshalb brauchten sie nicht einmal ein Auto. Ich seufzte erleichtert, als ich sah, dass Vadheim dabei war. Sein magerer Vogelkörper kam uns leicht und durchtrainiert entgegen. Jon Andersen neben ihm war schon außer Puste.
Vadheim sah mich und winkte mich zu sich herüber. »Was ist hier los, Veum? Diese Jungs hier sagen, es handele sich um einen Mordfall. Aber es ist niemand tot – vorläufig.«
»Nein. Aber hier wurde gerade ein Mädchen überfahren. Von dem Kerl da drüben. Er sagt, sie wirkte, als hätte sie Angst gehabt, als würde sie verfolgt. Und das Mädchen, das überfahren wurde, war …« Ich sagte ihren Namen leise: »Lisa Halle.«
»Scheiße,« sagte Vadheim, leise und überzeugend.
»Verdammte Scheiße!«
Ich nickte und war seiner Meinung.
»Aber du – was – warum bist du hier?«
»Weil …« Wieder senkte ich die Stimme. »Sie hat mich von hier drüben aus angerufen, vom Kiosk am Bahnhof, und dann wurde das Gespräch unterbrochen. Sie wollte mir etwas Wichtiges erzählen, hat sie gesagt.« Ich versuchte verzweifelt, mich an das kurze, atemlose Gespräch zu erinnern. »Sie sagte am Ende etwas, das darauf hindeuten könnte – dass sie jemanden entdeckt hatte …«
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Vadheim scharf.
Der ältere Polizist mit dem Orangengesicht sagte: »Im Krankenhaus. Sie war bewusstlos, und wir haben sie sofort losgeschickt.«
»Gut.« Vadheim sah missbilligend den großen Mann im Trenchcoat an. »Bringt den da drüben auf die Wache und macht eine Blutprobe. Schreibt seine Aussage auf. Du kommst mit mir, Veum.« Der große Mann versuchte zu protestieren, aber es half nichts. Er warf resigniert die Arme hoch und verdrehte die Augen. Er hatte Frau und Kinder zu Hause. Er kam von einer Feier, es war spät …
Ich ging mit Vadheim und Andersen zur Polizeiwache hinüber.
37
Vadheims Büro sah ungefähr genauso aus wie alle anderen Büros in diesem Teil der Stadt. Die Wände waren hellbeige, die Gardinen vor dem Fenster gelbgrün, der Bodenbelag verschlissen und das Muster verblasst. An eine Korktafel hinter dem Schreibtischstuhl hatte er ein paar alte Zeitungsausschnitte geheftet, und ich erkannte legendäre Langstreckenläufer wie Nurmi, Zatopek und Virén. Auf einem normalen Foto von einem Massenstart, möglicherweise bei einem Marathonlauf, versuchte ich vergebens, Vadheim zu erkennen. Unten auf der Tafel hing eine kopierte Ergebnisliste eines Betriebssportwettkampfes, und ganz oben hingen ein paar Teilnahmemedaillen in verschiedenen Metallen: Bronze, Silber und Gold. Im Bücherregal, mitten zwischen den gewöhnlichen Plastikordnern und Gesetzbüchern, erkannte ich zwei dünne, kleine Bücher. Es waren seine beiden Gedichtsammlungen. Die erste hieß Streckenzeiten, die andere Zielfoto. Danach war er verstummt. Ich fragte mich, warum.
Mitten auf dem Schreibtisch stand eine Thermoskanne. Vadheim holte zwei Plastikbecher und goss uns beiden Kaffee ein. »Sie wird gerade untersucht,« sagte er. »Sie ist immer noch bewusstlos.«
»Haben sie gesagt, ob …«
»Sie wird überleben. Wenn nichts völlig Unerwartetes geschieht …«
»Hast du dafür gesorgt – hast du jemanden raufgeschickt, der auf sie aufpasst?«
Er nickte. »Alles unter Kontrolle, Veum. Du kannst ganz beruhigt sein. Jedenfalls was das betrifft.«
Wir saßen uns an seinem Schreibtisch gegenüber. Er verschränkte die Arme und sah mich mit seinen dunkelbraunen, melancholischen Augen nachdenklich an. Er hatte seine Kaffeetasse auf den Schreibtisch gestellt, ich hielt meine zwischen beiden Händen, um sie zu wärmen. Ich dachte an Lisa: wie blass sie gewesen war, so weiß … wie Dornröschen. Mich schauderte: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr … Ich hoffte, dass Lisa nicht in einen hundertjährigen Schlaf gefallen war, denn dann könnte es lange dauern, bis wir – die Wahrheit herausfanden.
Vadheim sagte sanft: »Jetzt möchte ich
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