Dornteufel: Thriller (German Edition)
Schwester einer jungen, sorglos vor sich hin lebenden Frau, die einfach so in den Tod gesprungen war. Dafür hatte er als Polizist, der mit beiden Beinen im Leben stand und es in seinen übelsten Ausprägungen kannte, sicherlich kein Verständnis. Sie verstand es ja auch nicht.
Rebecca erinnerte sich, gelesen zu haben, dass die New Yorker Polizei fest in italienischer und irischer Hand war. Ryan Ferland gehörte offensichtlich der irischen Fraktion an. Er war von bulliger Statur, und sein hellrotes Haar sah aus wie kurz geschorene Drahtwolle. Seine Haut – oder zumindest die Teile davon, die von der schlecht sitzenden Uniform nicht verdeckt wurden – war von Malen und Sommersprossen übersät, und von seinen Handgelenken kräuselten sich rötliche Haare bis hin zu den Fingern.
»Ich muss Moira richtig sehen, sonst glaube ich nicht, dass sie tot ist«, erklärte Rebecca mit fester Stimme. Gleichwohl war die Versuchung groß, jetzt einen Rückzieher zu machen und einer Identifizierung über ein Foto auf einem Bildschirm zuzustimmen. Sie könnte in einer Viertelstunde hier raus sein und in Lower Manhattan in irgendeiner Bar einen Latte macchiato mit Sojamilch oder etwas Stärkeres trinken. Aber Moira war ihre Schwester gewesen. Sie hatte ihr nicht beigestanden, als es ihr schlecht ging. Sie hatte nicht mal gewusst, dass es so schlimm um Moira stand. Am Telefon hatte sie die Probleme ihrer Schwester heruntergespielt, und später, bei der Erinnerung an das Gespräch, ihre Sorgen um Moira verdrängt. Nun saß Rebecca hier, im Headquarter des NYPD am Police Plaza, und ihre Schwester lag tot in der Rechtsmedizin. Sie konnte ihr Versäumnis nicht wiedergutmachen. Niemals. Aber davor, Moira ein letztes Mal zu sehen, konnte und wollte sie sich nicht drücken. Vielleicht war es aber nur der Wunsch, sich selbst zu bestrafen? Und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass Ryan Ferland genau das vermutete.
»Wie Sie wünschen, Ma’am.« Er erhob sich ächzend. Seine Körperhaltung, die herausgedrückte Brust, zeigte ihr, dass er mit dem Verlauf der Unterhaltung zufrieden war. »Ich begleite Sie. Wir fahren gemeinsam in die First Avenue. Sie kennen sich ja hier nicht aus. Woher kommen Sie noch mal?«
»Aus Paris«, antwortete Rebecca.
»Das ist weit. Ich dachte, Sie sind Amerikanerin?«
»Ursprünglich komme ich aus North Carolina.«
»Richtig. Wie Ihre Schwester Moira. Aufgewachsen sind Sie bei einer Tante in Raleigh, richtig?«
Sie nickte stumm; sie war nicht willens, weiter ihre Vergangenheit vor ihm auszubreiten. Er hatte, was Moira betraf, wohl seine Hausaufgaben gemacht. Sie hatte nicht erwartet, dass ein Cop aus New York so viel Interesse an einem Suizid zeigen würde. Was man so hörte, hatten die hier doch ganz andere Sorgen. Das ständige Geheul der Polizeisirenen – ebenso wie die gehetzten Passanten und hupenden Taxifahrer – war Rebecca schon nach wenigen Stunden auf die Nerven gegangen.
Noch während der Fahrt zu den OCME’s Headquarters wunderte sich Rebecca, dass Ferland sich die Zeit nahm, sie zu begleiten. Kurze Zeit später wurde ihr klar, warum er es tat.
»Die Lady hier ist extra aus Europa angereist, um ihre verstorbene Schwester ein letztes Mal zu sehen. Nicht auf einem Foto, sondern in echt«, erklärte er einem gehetzt und abweisend aussehenden Mitarbeiter des OCME.
»Das kann ich nicht entscheiden. Und es kann dauern. Sie sehen doch, was hier los ist!«
»Ich kenn doch den Weg«, sagte Ferland. »Lassen Sie uns einfach runtergehen. Irgendwer wird schon da sein, der uns dann weiterhilft.«
Der Mitarbeiter rollte mit den Augen. »Warten Sie!«, blaffte er und griff zum Telefon.
Ferland drehte sich halb zu Rebecca um und nickte ihr zu. Es sollte wohl beruhigend aussehen und so viel bedeuten wie: »Ich mach das schon, ich hab hier alles im Griff.«
Rebecca sank der Mut. Wenn man es den Menschen so schwer machte, die sterblichen Überreste ihrer Familienangehörigen zu sehen, hatte das ja vielleicht auch einen triftigen Grund. Und Moira half das alles sowieso nicht mehr. Es war zu spät. Viel zu spät. Sie war schon so weit, Ferland auf den Arm zu tippen und einen Rückzieher zu machen, als er plötzlich eine Frau laut ansprach, die eilig an ihnen vorbeilief.
»Martinez!«
Sie drehte sich zu ihm um und schaute erst irritiert drein, dann grinste sie. »Ferland, mein Lieblings-Cop. Was treibt dich denn hierher?«
»Die Lady hier, Miss Stern, muss unbedingt ihre gerade verstorbene Schwester
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