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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Frieden (1865–1869). Und doch lässt sich nicht bezweifeln, dass die Brüder Karamasow mit ihren zwölf Büchern und einem Epilog ein durchaus autonomes Fragment bilden.
    Beim Umfang allein sollte man aber nicht stehenbleiben. Welche Wandlung Dostojewskijs Russland-Bild von Verbrechen und Strafe bis zu den Brüdern Karamasow durchmacht, lässt sich sehr gut an einem Detail zeigen: In Raskolnikows Traum vom zu Tode geprügelten Pferd sieht er sich selbst als siebenjährigen Knaben neben seinem Vater stehen, während das Schreckliche vor ihren Augen geschieht. Und der Vater (der ansonsten im Roman nirgends auftritt) sagt zu Raskolnikow: »Betrunken sind sie, treiben Unsinn, das geht uns nichts an, gehen wir nach Hause!« Raskolnikow umschlingt seinen Vater mit den Armen, ringt nach Luft und erwacht. Das heißt: Er hat keinen Vater, der zur russischen Gegenwart Stellung bezieht. Seine Situation ist durch Vaterlosigkeit im engeren und weiteren Sinne gekennzeichnet. Der Roman spielt im Jahre 1865. In den Brüdern Karamasow aber, die ja im Jahre 1866 spielen (dem Jahr, in dem, nachdem die Gerichtsreform 1864 vom Monarchen promulgiert wurde, zum ersten Mal ein Geschworenengericht zusammentritt), hat Alexej Karamasow, der Jüngling, den der Chronist in seinem »Vorwort« als seinen Helden bezeichnet, einen geistigen Vater: den Starez Sossima. Ihm verdankt er die lebensfähigen Maximen für den Weg ins Leben, die ihm sein leiblicher Vater nicht geben kann. Dostojewskijs Sorge um die Zukunft Russlands hat mit seinen fünf großen Romanen ein positives Fundament aufgespürt und veranschaulicht: ein spezielles Christentum mit den Wurzeln in der russischen Orthodoxie.
    Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller hält in ihrem Verlauf vom Toten Haus zu den Brüdern Karamasow eine besondere Pointe parat, mit der ich meine hier vorgelegte Monographie beschließen möchte. Es ist eine Pointe, in der Leben und Werk des Autors auf überraschende Weise zusammenfließen und ihre Vollendung finden. Ich spreche vom Schicksal Dmitrij Karamasows, der, siebenundzwanzig Jahre alt, verhaftet wird und wenige Monate später die Strafe für ein Verbrechen annimmt, das er gar nicht begangen hat und wofür er zwanzig Jahre in Sibirien verbringen soll. Dieser Ausgang der Geschichte hat Unverständnis ausgelöst. Der Hollywood-Film unter der Regie von Richard Brooks, mit Yul Brynner als Dmitrij (USA 1958), lässt denn auch den Verurteilten vor Antritt der Strafe entfliehen. Vielleicht hat sich solchen Schluss auch so manch ein Leser gewünscht. Dostojewskijs Pointe sieht aber anders aus, wie unsere Analyse ja im Detail gezeigt hat. Ohne Dmitrij kein Mord. Iwan stellt den Täter zwar bereit, würde jedoch Dmitrij fehlen, so hätte der bereitgestellte Täter, Smerdjakow, den Mord nicht begangen. Also ist Dmitrij der Schuldige.
    Auffällig ist die Sorgfalt, mit der Dostojewskij die Notwendigkeit des Justizirrtums veranschaulicht. Entscheidend ist dabei die unwissentliche Falschaussage des Dieners Grigorij, mit der alle Indizien, die für Dmitrijs Täterschaft sprechen, regelrecht einklicken und eine unzerreißbare Beweiskette bilden. Man darf sagen: ohne Grigorij kein Justizirrtum. In solchem Zusammenhang ist ein ganz spezielles Detail hervorzuheben: Dostojewskij hat Grigorij den Nachnamen Kutusow gegeben. Und dieser Name hat in Russland einen ganz besonderen Klang. Hat Dostojewskij an Tolstojs Krieg und Frieden gedacht, als er die Brüder Karamasow schrieb? Ganz gewiss. Man betrachte nur das Kapitel »Smerdjakow mit Gitarre« im Fünften Buch. Beim Flirt mit Marja Kondratjewna sagt Smerdjakow: »Im Jahre zwölf fand ein großer Feldzug Kaiser Napoleons I. von Frankreich, des Vaters des heutigen Kaisers, gegen Russland statt, und es wäre gut gewesen, wenn die Franzosen uns damals unterworfen hätten: eine kluge Nation hätte eine ganz dumme unterworfen und sie sich einverleibt. Dann sähe es bei uns ganz anders aus.« [161]   Nichts Schlimmeres lässt sich in der Welt Dostojewskijs äußern als das, was Smerdjakow hier sagt. Die positive Funktion des Feldmarschalls Kutusow für die Zerschlagung der Französischen Armee und ihre Vertreibung aus Russland wird damit unabweislich beschworen. Und so, wie Kutusow in Krieg und Frieden als das unbewusste Werkzeug des Weltgeistes gegen Napoleon, den »Feind des Menschengeschlechts«, gekennzeichnet wird, ist auch sein Namensvetter Grigorij Kutusow in den Brüdern Karamasow das Werkzeug der verborgenen

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