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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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finsterer Begleiter, von glühendem Hass auf seinen unerwarteten Rivalen ergriffen wird. Katerina erzählt Ordynow eines Nachts die düstere Geschichte ihres Missgeschicks, das offenbar durch die teuflische Gestalt Murins bestimmt wurde. Träumt Ordynow diese Eröffnungen, oder ist Katerina geisteskrank und gibt, was Murin ihr zum Zeitvertreib vorlas, als Selbsterlebtes wieder? Ordynow gerät immer mehr in den Bann des Mädchens und sieht sich schließlich zu dem Versuch getrieben, den unheimlichen Murin zu erstechen. Die Dämonie des Schlafenden macht jedoch seinen Entschluss zunichte, und er verlässt sein seltsames Quartier. In der Obhut Tinchens und ihres deutschen Vaters, die den Vermissten freundlich empfangen, lässt sich Ordynow von seiner Krankheit kurieren. Als er Wochen später Katerina aufsuchen will, erfährt er, dass beide, Murin und sie, auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind. Murin, so heißt es, sei das polizeilich gesuchte Haupt einer Schmugglerbande, dem der Boden in Petersburg zu heiß geworden ist.
    Der Träumer Ordynow mit seiner inneren Disponiertheit zum Abenteuer weist bereits voraus auf die Gestalt Raskolnikows (1866/67). Dostojewskij experimentiert in der Wirtin zudem mit einem Verfahren, das er insbesondere in den Bösen Geistern (1871/72) und im Grünen Jungen (1975) weiterentwickelt hat: mit der Einrichtung einer Wirklichkeit auf Widerruf. Vergangene Wirklichkeit wird aufgrund von Mutmaßungen und Gerüchten erschlossen, die jederzeit korrigiert werden können.
    In der Wirtin ist, wie man sieht, das romantische Erbe lebendig. Dostojewskij stieß mit dieser Erzählung auf die rigorose Ablehnung Belinskijs, der für ein Abgehen von der sozialkritischen Linie der Armen Leute und des Doppelgängers kein Verständnis hatte. Dostojewskij, der Experimentator, war sich mit diesem Werk jedoch keineswegs untreu geworden. Literaturgeschichtlich gesehen ist die Wirtin eine Variante des englischen Schauerromans (Gothic novel). Dostojewskij evoziert hier die Stimmung des Albtraums: Der Hauswirt Murins heißt bezeichnenderweise Koschmarow (von franz. cauchemar ).
    Wendet man sich nach der Lektüre der Wirtin den Erzählungen Die fremde Frau und Der eifersüchtige Ehemann zu (beide 1848), die später unter dem Titel Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett vereinigt wurden, so wird man die Wandlungsfähigkeit Dostojewskijs in ihrem ganzen Ausmaß erfahren. Dostojewskij übernimmt hier die Situationskomik und die Dialogtechnik des französischen und russischen Vaudevilles. So schrieb Fjodor Koni (1809–1879) ein Stück mit dem Titel Der Mann im Kamin und die Frau auf Besuch (1834), und ein nicht weniger bekanntes von Dmitrij Lenskij (1805–1860) heißt Die Frau bei Tisch und der Mann unter dem Tisch (1841). Außerdem spielt Dostojewskij explizit auf die frivole Belletristik des französischen Boulevardschriftstellers Paul de Kock (1793–1871) an, dessen Roman La femme, le mari et l’amant (1829) dem gewählten Thema besonders nahesteht. Wir erleben hier Dostojewskij als den Systematiker des komischen Effekts. Die Eifersucht eines »kahlköpfigen Fünfzigers von sehr solider Erscheinung«, der seiner eleganten und lebenslustigen jungen Frau im nebligen Petersburg nachspioniert, wird als entwürdigende Leidenschaft gestaltet. Jeder junge Mann erscheint aus solcher Perspektive als möglicher Liebhaber der eigenen Frau, jede fremde Wohnung als deren mögliches Liebesnest. Der monomanische Protagonist dringt schließlich, ganz im Banne einer neuen Spur, ins Schlafzimmer einer wildfremden Frau ein, wo die Verwicklungen ihren burlesken Gipfel erreichen. Dostojewskij hat später das hier gestaltete Thema in der Erzählung Der ewige Gatte (1870) in einer völlig anderen Tonlage erneut behandelt.
    Mit der Erzählung Ein kleiner Held , geschrieben 1849 während seiner Festungshaft vor seiner Verurteilung, schlägt Dostojewskij ein Thema an, das ihn in seinen großen Romanen immer intensiver beschäftigen wird: die Eigenständigkeit, ja Vorbildlichkeit des kindlichen Ehrgefühls. Der Kleine Held , ein elfjähriger Knabe, überschreitet mit dem Erlebnis seiner ersten Liebe, die einer erwachsenen Frau gilt, die Schwelle zur Wirklichkeit der Erwachsenen und strebt zur »ritterlichen« Heldentat. Solch unverstelltes Empfinden kennzeichnet auch Kolja Iwolgin im Idioten (1968/69) und Ilja Snegirjow in den Brüdern Karamasow (1879/80). Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Kleine Held zum Auslöser für Turgenjews

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