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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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selber herauszufinden. Der Text gibt dazu keinen Hinweis. Ja, die Profilierung des inzwischen verstorbenen Erzählers durch den fiktiven Herausgeber des hinterlassenen Manuskripts ist eine eigene Geschichte, die dem Ganzen als »Einführung« vorangestellt wird. All diese Eigenheiten sind Eingebungen des künstlerischen Gewissens, die Dostojewskij gewiss als die logischen Zwänge des Handwerklichen empfunden hat, das hier ganz auf die Erfassung eines höchst fremdartigen und dem Leser ja völlig ungeläufigen Milieus angesetzt wird. Kurzum: Überall ist die Hand des Künstlers Dostojewskij zu spüren, der genau weiß, wer hier worüber sich wundert und sich zu wundern hat.
    Es geht jetzt darum, die soziologische und poetologische Dynamik sichtbar zu machen, mit der die zu gestaltende Sache jeweils ihren Autor in den Griff genommen hat. Hierzu sei an C. G. Jungs Begriff des »autonomen Komplexes« erinnert, dies allerdings nur in entfernter Analogie, ohne Rekurs auf das »kollektive Unbewusste«. Dostojewskij stieß mit seinem Erstling, dem Briefroman Arme Leute , ganz bewusst in die geistige Situation seiner Zeit vor, erfüllte damit, so dürfen wir sagen, seinen eigenen gesellschaftlichen Auftrag. Er will inhaltlich und formal ein neues literarisches Wort finden.
    Konkret gesagt: Dostojewskij war darauf aus, eine Bewusstseinsdarstellung zu finden, an der sich Innerlichkeit und Außenwelt gleichzeitig ablesen lassen. Die Innerlichkeit des dargestellten Subjekts war so anzulegen, dass sich in ihr die Außenwelt, auf die es reagiert, objektiv meldet. Die Innenwelt erhielt dabei kein höheres Recht als die Außenwelt, das wäre ein Rückfall in die Romantik. Dostojewskijs Erstling, Arme Leute (1846), ist ein Briefroman, in dem sich per definitionem zwei Subjekte jeweils schriftlich aussprechen, dies aber so, dass für den Leser implizit deren Außenwelt objektiv sichtbar wird und die kritische Einschätzung der beiden Briefpartner über deren Köpfe hinweg herbeigeführt wird. Geschildert wird die Liebe des Kanzleibeamten Makar Dewuschkin zu der weitaus jüngeren Warwara Dobroselowa. Beide leben in einem Petersburger Armenviertel. Makar verzichtet auf Zusammenkünfte mit Warwara, um sie nicht ins Gerede zu bringen. Ihr Briefwechsel dauert von Anfang April bis Ende September. Die optimistische Frühlingsstimmung Makars endet mit herbstlicher Enttäuschung. Warwara heiratet überraschend den reichen Gutsbesitzer Bykow (russ. byk = »Stier«), der sich ein Jahr zuvor an ihr verging. Solcher Handlungsverlauf lässt die Prosa des Lebens über die Poesie des Herzens siegen. Die in den Briefen sich aussprechende Innerlichkeit wird von Dostojewskij als eine literarische Scheinwelt dargestellt, die, inspiriert von Rousseau und der westeuropäischen Romantik, hilflos bleibt gegenüber den Fakten der zeitgenössischen Großstadtmisere. Voll ausgeprägt bereits die gekonnte Handhabung der Psychologie ungewollter Selbstentlarvung der Briefschreiber. Virtuos der Einsatz literarischer Parodie als Mittel der Charakterzeichnung. Der damals maßgebende Kritiker Wissarion Belinskij meinte zwar, manches sei noch zu lang geraten, sprach aber sofort von einem »Meisterwerk«, ja nannte Dostojewskijs Arme Leute sogar den »ersten sozialen Roman« Russlands.
    Im nächsten Werk, dem Doppelgänger (1846), probierte Dostojewskij eine völlig andere Art der Bewusstseinsdarstellung aus. Er nimmt einen imaginären Erzähler, der in der dritten Person über die Bewusstseinstätigkeit der Hauptgestalt berichtet und diese Bewusstseinstätigkeit regelrecht fotografiert. Innerlichkeit und Außenwelt werden dabei zunächst auseinandergehalten. Nun versinkt aber die geschilderte Hauptgestalt immer mehr in ihren Wahnsinn, so dass sich in ihrem Bewusstsein subjektive Wirklichkeit und objektive Wirklichkeit zunehmend überlagern, wodurch der Leser schließlich nicht mehr imstande ist zu entscheiden, was das dargestellte Subjekt wirklich erlebt und was es sich nur einbildet. Geschildert werden auf knapp zweihundert Seiten nur vier aufeinanderfolgende Tage im Leben der Hauptgestalt, die am Ende ins Irrenhaus eingeliefert wird. Die Handlung verläuft folgendermaßen: Jakow Goljadkin (so heißt der Held) ist Titularrat in Petersburg und in solch niedriger Stellung gleichzeitig angepasst in Botmäßigkeit und rücksichtslos auf Karriere bedacht. In geistiger Klarsicht gelangt er zu der Überzeugung, dass er inmitten seiner erfolgreichen Mitmenschen nur eine

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