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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Erzählung Erste Liebe (1860) wurde. Im selben thematischen Zusammenhang steht bereits Dostojewskijs Erzählung Der Christbaum und die Hochzeit (1848): allerdings liegt hier die Emphase auf dem korrumpierenden Einfluss der Welt der Erwachsenen auf die Welt des Kindes.
    Mit Netotschka Neswanowa unternimmt Dostojewskij den Versuch, die »Geschichte einer Frau« zu schreiben, wie es der Untertitel der ersten Druckfassung (1849) des als Fragment vorliegenden Romans ausdrücklich vermerkt. Es ist das erste und letzte Mal, dass Dostojewskij den Lebensweg einer Frau zum zentralen Thema macht.
    Netotschka wächst ohne ihren Vater auf. Nach dem Tod der Mutter und des Stiefvaters, eines Geigers, der beim Anhören eines wahrhaft genialen Kollegen dem Wahnsinn verfällt und im Irrenhaus stirbt, wird Netotschka wie durch wunderbare Fügung in das Haus einer Fürstenfamilie aufgenommen, wo sie ein neues Leben beginnt und von abnorm intensiver Zuneigung zu der mit ihr gleichaltrigen Tochter Katja ergriffen wird. Späterhin lebt Netotschka bei Alexandra, der älteren Stiefschwester Katjas. Alexandra ist offensichtlich unglücklich verheiratet. Netotschka erhält durch Zufall Einblick in das Privatleben ihrer Gastgeber und verspürt den Zauber eines Geheimnisses. An dieser Stelle endet das Fragment. Netotschka ist knapp achtzehn Jahre alt.
    In der Zeichnung des Geigers, der dem Wahnsinn verfällt, ist der Einfluss E. T. A. Hoffmanns spürbar, des Weiteren hat offensichtlich Balzacs Erzählung Gambara (1837) Dostojewskij vor Augen gestanden. Das Projekt dieses neuen Romans beschäftigte ihn seit 1846. Dostojewskij will mit diesem Werk zentral zur Frauenfrage Stellung nehmen, ein Thema, das im Russland der vierziger Jahre höchste Aktualität gewann. Man denke an Polinka Sachs (1847) von Alexander Druschinin oder an Die diebische Elster (1848) von Alexander Herzen. Wie so manche Heldin der Romane George Sands (1804–1876) sollte Netotschka schließlich eine gefeierte Sängerin werden. Joseph Frank vermutet, dass Dostojewskij offenbar ein russisches Gegenstück zu George Sands Consuelo und Lucrezia Floriani schaffen wollte. [160]   Von unmittelbarstem Einfluss indessen ist Eugène Sues Roman Mathilde, ou les Mémoires d’une jeune femme (1841) gewesen. Dostojewskij hatte sogar vor, diesen Roman zusammen mit seinem Bruder Michail ins Russische zu übersetzen.
    In den vierziger Jahren plante Dostojewskij einen Zyklus von Werken mit einer durchgehenden Erzählerfigur, einem »Unbekannten«, der als Flaneur im phantastischen Petersburg nach ungewöhnlichen Begebenheiten und auffälligen Typen Ausschau hält. Diesem Zyklus, der vielleicht ein Gegenstück zu Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers geworden wäre, sollten, wie anzunehmen ist, folgende Titel angehören: Die fremde Frau (1848), Der eifersüchtige Ehemann (1848), Erzählungen eines Mannes, der viel erlebt hat (1848) sowie Der Christbaum und die Hochzeit (1848). Die gewaltsame Veränderung der Lebensumstände Dostojewskijs im Jahre 1849 ließ das Projekt indessen nicht zur Vollendung kommen. Der Zyklus hätte wahrscheinlich den Untertitel getragen Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten , womit die Anonymität großstädtischer Zeugenschaft sehr schön zum Ausdruck gekommen wäre.
    Man darf ohne Übertreibung sagen, dass sich der junge Dostojewskij die maßgebenden literarischen Interessen seiner Zeit auf dem Gebiet der erzählenden Prosa produktiv zu eigen macht. Was sich in seinen Resultaten an Weltanschauung zu erkennen gibt, ist von einer allgemeinen humanitären Hellhörigkeit getragen, die sich schwerlich einer bestimmten politischen Richtung zuordnen lässt.
    Mit den frühen Erzählungen schafft sich Dostojewskij seine literarische Landschaft. Wir werden eingeführt in das Petersburg der armen Leute, der halbverhungerten fieberkranken Schwärmer und Narren, die in engen Zimmern hausen und mit Phantasiegebilden beladen sind, die so phantastisch sind wie Petersburg selbst. Nur der Kleine Held und der erste Teil von Netotschka Neswanowa spielen nicht in Petersburg. Bereits Puschkin (1799–1837) und Gogol (1809–1852) hatten die Nebelstadt an der Newa als Brutstätte schwerster Identitätskrisen unauslöschlich ins literarische Bewusstsein gehoben.
    Zeittypisch ist Dostojewskijs Hinwendung zu Exzentrikern und Sonderlingen. Da ist Herr Prochartschin , der Geizige, da ist Polsunkow , der Narr. Da ist der unglücklich Liebende der Hellen Nächte . Da ist Wasja Schumkow

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