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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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erscheint das Tagebuch eines Schriftstellers , zunächst ein Jahr lang in der Wochenzeitung »Der Bürger« (Graždanin), für die Dostojewskij auch außerhalb des Tagebuchs Aufsätze, Skizzen und Berichte schreibt, und das von 1873 bis 1878. Ab Januar 1876 bis Dezember 1877 ist sein Tagebuch eines Schriftstellers eine selbständige Monatsschrift, des Weiteren im August 1880 und im Januar 1881.
    Dieses Tagebuch ist ein virtuoses Patchwork verschiedenster Textsorten. Man könnte auch sagen: Dostojewskij tritt in ganz verschiedenen Rollen auf: als Kriminologe, der Angeklagte im Gefängnis besucht und Prozessberichte verfasst, als Literaturkritiker, der Kollegen rezensiert, als politischer Prophet, den die Sorge um die Zukunft Russlands antreibt, und auch als das, was er für uns wahrhaft ist, als Dichter. Folgende Erzählungen sind zuerst im Tagebuch eines Schriftstellers erschienen: Bobok (Februar 1873), Der Knabe bei Christus zur Weihnacht (Januar 1876), Der Bauer Marej (Februar 1876), Die Hundertjährige (März 1876), Die Sanfte (November 1876) und Der Traum eines lächerlichen Menschen (April 1877). Ausführlich meldet sich Dostojewskij als Literaturkritiker zu Wort: fünf Aufsätze über Tolstojs Anna Karenina (Juli/August 1877), zwei über den Tod und das Werk von George Sand (Juni 1876), vier anlässlich des Todes von Nikolaj Nekrassow (Dezember 1876). Turgenjews Roman Neuland erhält ein Streiflicht (Januar 1877). Besondere Beachtung erhielt Dostojewskijs Puschkin-Rede vom 8. Juni 1880, veröffentlicht im Tagebuch vom August desselben Jahres. Dostojewskij unterstellt darin Puschkin eine nationalistische Gesinnung, was sachlich nicht haltbar ist, und projiziert damit seine eigene Auffassung vom Dichter auf seinen großen Kollegen. Eine historische Einordnung der Position Dostojewskijs als Literaturkritiker liefert René Wellek in seiner Geschichte der Literaturkritik ( A History of Modern Criticism , Bd. 4, 1965, S. 270–274), worin Dostojewskij im Rahmen der »Russischen konservativen Kritiker« in einer Reihe mit Apollon Grigorjew, Nikolaj Strachow, Alexander Potebnja und Lew Tolstoj platziert wird. Als Gegenposition werden die »Russischen radikalen Kritiker« Nikolaj Tschernyschewskij, Nikolaj Dobroljubow und Dmitrij Pisarew abgehandelt. René Wellek bedauert, dass Dostojewskijs durchaus vernünftige ästhetische Ansichten weitaus weniger Aufmerksamkeit auf sich zogen als seine politischen und religiösen Kommentare zum Zeitgeschehen.
    Dostojewskijs politische Ansichten, wie sie uns im Tagebuch eines Schriftstellers so unverhüllt entgegentreten, hat Josef Bohatec in seiner Monographie Der Imperialismusgedanke und die Lebensphilosophie Dostojewskijs (1951) ausführlich abgehandelt. Es geht dem Verfasser, wie er im Vorwort betont, um den »realpolitischen Imperialismus und seine in der Lebensphilosophie wurzelnde Ideologie bei Dostojewskij«. Eine überraschende literarische Rechtfertigung eigener Art hat Gary Saul Morson versucht, unter dem programmatischen Stichwort: Dostojewskijs Tagebuch eines Schriftstellers und die Tradition der literarischen Utopie ( The Boundaries of Genre: Dostoevsky’s »Diary of a Writer« and the Traditions of Literary Utopia , Austin: University of Texas Press, 1981). Innerhalb der gegenwärtigen Verlagslandschaft des deutschen Sprachraums liegen zwei Auswahlbände vor: Fjodor M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers. Notierte Gedanken (München, Zürich: Piper 1996) und Fjodor Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers. 1873 und 1876–1881. Eine Auswahl (Berlin: Aufbau-Verlag 2003).
    Grundsätzlich bleibt festzustellen: Im Tagebuch beherbergt Dostojewskij, der Ideologe, den Dichter; in den großen Romanen beherbergt der Dichter den Ideologen. Im Tagebuch spricht der Autor, in den Romanen lässt der Autor sprechen. Und doch macht sich Dostojewskij auch im Tagebuch nirgends zum Sprachrohr eines weltanschaulichen Lagers, er bleibt, wie Aleksandar Flaker festgestellt hat, ein »provozierender Einzelgänger«. Und so gewährt dieses Tagebuch verbindlichen Einblick in das öffentliche Selbstverständnis Dostojewskijs, geschrieben für engagierte Zeitungsleser von einem Schriftsteller, der selber ein engagierter Zeitungsleser war.
    Für den Dostojewskij-Leser von heute aber, der sich von der Welt der fünf großen Romane zutiefst angezogen fühlt und zuhöchst begeistert sieht, wird sich das Tagebuch eines Schriftstellers wohl kaum zur Pflichtlektüre entwickeln können,

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