Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Differenz zwischen ihnen aufgehoben würde.
In drei Darlegungsschritten sei zuerst die allegorische Lesart herausgearbeitet, danach die realistische und schließlich die Integration jener in diese. Die Erläuterung der allegorischen Lesart orientiert sich an Kants berühmtem Bild vom inneren Gerichtshof im Menschen. Dieses Bild sei vor Eintritt in die Explikation der ersten Lesart kurz in Erinnerung gebracht.
Kants Bild vom inneren Gerichtshof im Menschen
Auf der allegorischen Ebene ist das Geschehen der Brüder Karamasow ein Geschehen der reinen Innerlichkeit: eine Veranschaulichung nämlich der Arbeit des Gewissens. Wir bekommen, so darf man sagen, das Funktionieren des Gewissens vorgeführt. Dostojewskij demonstriert hier genau das, was Kant in der Metaphysik der Sitten den »inneren Gerichtshof im Menschen« nennt, vor »welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen«. Nicht ohne finstere Melodramatik erläutert Kant, was es heißt, Gewissen zu haben: »Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben, oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen, oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es, in seiner äußersten Verworfenheit, allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören kann er doch nicht vermeiden.« [106]
Wo das Gewissen schuldig spricht, hat, so erläutert Kant, die Führung einer Rechtssache vor Gericht stattgefunden. Die Eigenart dieser Gerichtsverhandlung besteht nun darin, dass Angeklagter, Ankläger und Richter als ein und dieselbe Person zu denken sind. Dennoch ist es nicht so, dass der Ankläger deshalb jederzeit verlieren würde. Vielmehr halte der Mensch das »Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen«. Die kantsche Überlegung hat ihre Pointe darin, dass das Gewissen als »subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung« gedacht werden muss, wodurch eine Verurteilung des Menschen durch sich selbst nach der Strenge des Rechts möglich wird.
Die allegorische Lesart
Wenn nun davon ausgegangen wird, dass uns die Gerichtsverhandlung in den Brüdern Karamasow das Funktionieren des inneren Gerichtshofes im Menschen vorführe, so dürfte schon jetzt klar sein, dass das Fazit einer solchen Vorstellung darin liegt, die Verurteilung Dmitrijs als gerecht anzuerkennen. Denn der innere Richter in uns kann sich nicht irren.
Es seien die Entsprechungen zum kantschen Bild näher gekennzeichnet. Der Angeklagte besteht in den Brüdern Karamasow aus vier Personen oder, weniger paradox ausgedrückt, aus vier Komponenten: Alexej (I), Iwan (II), Dmitrij (III) und Smerdjakow (IV). Jede dieser Komponenten ist durch eine bestimmte Haltung zum bösen Wunsch gekennzeichnet. Abgewiesene Bejahung: Alexej; insgeheime Bejahung: Iwan; offene Bejahung: Dmitrij. Smerdjakow ist der Exekutor der Bejahung. Jede dieser Komponenten wird von Dostojewskij mit einem bestimmten Rollentypus gekoppelt: Alexej ist der »Mönch«, Iwan der »Intellektuelle«, Dmitrij der »Soldat« und Smerdjakow der »Lakai«. Auf der allegorischen Ebene kommt mithin eine Person, die einen Mord begangen hat, in ihren vier Komponenten, deren jede eine feste Haltung zur Wirklichkeit des Bösen repräsentiert, vor Gericht. Aufgabe des Gerichtes ist es, zu entscheiden, welche Komponente für die Tat verantwortlich ist.
Jeder weiß, dass in den Brüdern Karamasow Dmitrij schuldig gesprochen wird. Auf der realistischen Ebene ist dieser Schuldspruch die Folge einer falschen Einschätzung der Indizien, besser: der richtigen Einschätzung einer nicht nachweislichen falschen Aussage. Auf der allegorischen Ebene hingegen entfällt alle realistische Genese dieses Schuldspruchs, und es geht nur noch um dessen Faktum.
Es stellt sich jetzt die Frage: Warum spricht der innere Richter in Gestalt der Geschworenen ausgerechnet die Komponente Dmitrij schuldig? Zur Vorbereitung der richtigen Antwort sei die zugrundeliegende Bild-Vorstellung voll in den Blick gehoben. Wenn wir davon ausgehen, dass in den
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