Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
aufhalten, überall herrscht das Unerquickliche. Nur die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne lassen eine Enthebung aus der Realität ahnen.
Besonderheiten
Ein grüner Junge (1875) ist Dostojewskijs zweitletzter Roman, der vierte in der Reihe der großen Fünf, die 1866 mit Verbrechen und Strafe beginnt und 1879/80 mit den Brüdern Karamasow endet. Der großen »Fünf«? Diese Frage stellt sich, wenn man sich die Sekundärliteratur ansieht. Die meisten Kritiker sprechen nur von den großen »vier« Romanen Dostojewskijs oder zählen den Grünen Jungen einfach nicht mit auf, wenn sie die Meisterwerke Dostojewskijs nennen. Der melodramatische Apparat, der hier eingebracht worden sei, komme zwar den privaten Vorlieben mancher Dostojewskij-Verehrer entgegen, lasse das Werk aber nicht zu einem Klassiker der Weltliteratur werden. Das ist jeweils mehr oder weniger explizit die mehrheitliche Forschungsmeinung. An thematischen Exegesen ist zwar kein Mangel, poetologische Arbeiten aber sind rar.
Es fällt jedoch auf, dass gerade dieses Werk Dostojewskijs von anderen Schriftstellern mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht worden ist. Ich nenne nur Hermann Hesse, Franz Kafka, André Gide, Thomas Mann und Robert Musil. Hesse vermerkt 1915 in der Schweizer Zeitschrift »Der Bund« sein »fast befremdetes Erstaunen« angesichts der »überlegenen Meisterschaft« Dostojewskijs, der »Kühle« und des »Könnens« bei der Behandlung des »Tons« dieses Romans. Hesse sieht in der Darstellung der »erfahrungslosen Altklugheit« dieses Jünglings und der »erregten Erlebnisse des Lebens« ein »unglaublich kühnes, ja freches Kunststück«. Auch stellt Hesse wie gesagt fest, dass der »Apparat der Handlungen« bei Dostojewskij, dieses Operieren mit Revolver, Gefängnis, Mord, Gift, Selbstmord, Wahnsinn, mit belauschten Verschwörungen und gemieteten Nebenzimmern durchaus »nichts Äußerliches« ist. [100]
Von Franz Kafka wissen wir, dass er, wie sein Freund Max Brod berichtet, »von Dostojewskijs Jüngling […] besonders entzückt war und mir«, so Brod, »mit lauter Stimme, außer sich vor Begeisterung, den Anfang des fünften Kapitels vorlas, den phantastisch paradoxen Plan des Helden, unbedingt reich zu werden«. [101]
Und genau dieses fünfte Kapitel des Ersten Teils, aus dem Franz Kafka »außer sich vor Begeisterung« vorlas, wird auch von André Gide in seinem Dostojewskij-Buch von 1923 ausgezeichnet. Gide fügte seinen Untersuchungen einen Anhang bei, der zwei Texte enthält, jeweils nur acht Seiten lang, die ihm für Dostojewskij besonders repräsentativ erschienen: einer davon aus dem Jüngling (und der andere aus dem Idiot ). Der Text aus dem Jüngling entstammt genau jenem fünften Kapitel, von dem Kafka so hingerissen war. [102]
Thomas Mann notiert am 16. August 1952 in seinem Tagebuch : »Begann Dostojewskijs Werdejahre wieder einmal zu lesen. Zeitbloms erste Seiten merklich davon beeinflußt, was ich nicht wußte.« [103] Thomas Mann stellt also mit Erstaunen fest, dass er den Anfang des Doktor Faustus , d.h. den für Serenus Zeitblom typischen Erzählton, unter dem suggestiven Einfluss der Werdejahre weitergeführt habe. Ein schaffenspsychologisch höchst aufschlussreicher Vermerk!
Robert Musil vermerkt in seinem Tagebuch aus den Jahren 1940–42, Ibsen sei wie Dostojewskij ein »Dichter des Wollens und seiner Konflikte«. Und dann heißt es: »Arkadij im Werdenden trainiert sich asketisch. Seine ›Idee‹ ein Rothschild zu werden. Wille zur Macht, und warum. Schöngeistig höchst uninteressant; aber eine Durskala.«
Wieder sind wir wie durch Zauberhand in jenem fünften Kapitel des Ersten Teils, auf das es auch Kafka und Gide abgesehen haben. Robert Musil fügt allerdings folgende Überlegung hinzu: »Das gleiche der Werdegang H.[itlers?]s. Was muß man tun, um Macht zu erwerben, und wie werde ich sie benutzen: Frage seiner Jugend und seines politischen Anfangs. Beschwingt durch die Reaktionsstimmung nach dem verlorenen Krieg.« Arkadij Dolgorukij, Dostojewskijs pubertären Helden, mit Adolf Hitler in Beziehung zu setzen, hat bisher, außer Robert Musil, noch niemand getan. Musil setzt seine Überlegungen wie folgt fort: »Arkadijs Unzufriedenheit mit seinen ›Dummheiten‹ wiederholt sich als depressive Zustände. Verbunden mit Bewußtsein, zu etwas Großem da zu sein und es einst zu erreichen. So konvergiert alles zu dieser Figur.« [104]
Robert Musil sieht also in Dostojewskijs
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