Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
ganz offensichtlich persönliche Beziehungen unterhält und keinesfalls mit dem Autor Dostojewskij gleichgesetzt werden darf. Die geschilderten Ereignisse verteilen sich auf lediglich sechs Tage gegen Ende August und zu Anfang November 1866 und werden aus einer Distanz von 13 Jahren rekonstruiert. Der Epilog schildert ein zusätzliches Tagesfragment. Schauplatz ist die russische Provinz, zumeist eine Stadt mit dem symbolischen Namen Skotoprigonjewsk (Viehhofen). Kernstück der äußeren Handlung sind die Gründe und Hintergründe des Mordes an Fjodor Pawlowitsch Karamasow, dessen drei Söhne, Dmitrij (aus erster Ehe), Iwan und Alexej (aus zweiter Ehe), in der Reaktion auf den Vater jeweils ihre Welt und ihren Charakter enthüllen. Fjodor Karamasow ist die Verkörperung des völlig enthemmten Geschlechtstriebes. Nach einer seiner nächtlichen Orgien verging er sich inmitten einer Bande von Trunkenbolden – so geht das Gerücht – an einer halbirren Spottgestalt, der »Stinkenden«, die an Bachrändern im Unkraut schläft. Aus dieser Verbindung entstand Smerdjakow, ein Epileptiker, der im Hause Karamasow als Koch angestellt wird. Der Roman beginnt mit der Familiengeschichte der Karamasows, die in eine Darstellung der gegenwärtigen Konfliktsituation einmündet: Dmitrij, der ungestüme, grundehrliche und leichtlebige Soldat, bezichtigt seinen Vater, dass er ihm seinen mütterlichen Erbanteil vorenthalte; die Beziehung des reichen Vaters zu Agrippina (= Agrafena, Gruschenka) Swetlowa, einer femme fatale, die von Dmitrij angebetet wird, bringt die Situation auf den Siedepunkt. Den Besuch im Kloster, wo der Starez Sossima um Rat und Hilfe angegangen wird, gestaltet Fjodor Karamasow zu einer abgründigen Farce. Schließlich fasst Dmitrij in einer jähen Anwandlung den Entschluss, seinen Vater umzubringen. Doch auch in Iwan, einem grüblerischen Geist, der sich die Legende vom Großinquisitor ausdenkt, ist bereits der Mordgedanke aufgekeimt; Iwan verpflanzt indessen seine Absicht in die Seele Smerdjakows, der sich ihm mit infamer Raffinesse als Werkzeug anbietet. In der fraglichen Nacht ist Iwan weit vom väterlichen Gut entfernt, und Dmitrij lässt von seinem Vorhaben ab, als er sieht, dass sich Gruschenka wider Erwarten nicht bei seinem Vater befindet. So kann Smerdjakow, der sich durch einen simulierten epileptischen Anfall ein Alibi verschafft hat, die Situation nutzen: er schlägt Fjodor Karamasow mit einem gusseisernen Briefbeschwerer den Schädel ein. Dmitrij wird für diese Tat verhaftet und aufgrund der falschen Aussage des Dieners Grigorij, der sich über eine wichtige Einzelheit täuscht, zu 20 Jahren Zuchthaus in Sibirien verurteilt. Smerdjakow hat sich nach seinem Geständnis gegenüber Iwan im vollen Wissen um die Folge seines Tuns erhängt: als sich Iwan vor Gericht auf den toten Zeugen beruft, glaubt man ihm nicht. Die Gerichtsverhandlung bildet den kompositorischen Höhepunkt des Romans. Sachverhalt und Charakter des Angeklagten sind so angelegt, dass die Wahrheit für das Gericht eine private und unglaubwürdige Version des Geschehens bleiben muss. Fernab von der leidenschaftlichen Verstrickung in den Strudel des Lebens ist die Welt des Starez Sossima, der beherrschenden Gestalt im Kloster, das Alexej nach dem Tode Sossimas verlässt, weil ihn das lebendige Leben zur Teilnahme zwingt. Die belehrenden Reden Sossimas, die eine lebensfähige Weltsicht zu formulieren suchen, werden dem Chronisten in einer Nachschrift Alexejs zugänglich. Dostojewskij gestaltet in diesem Werk, das sein monumentalstes ist, mit unüberholbarer Dialektik die Frage nach den Möglichkeiten der Schuld.
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Zwei Lesarten: allegorisch und realistisch
Die Brüder Karamasow provozieren zu zwei verschiedenen Lesarten: zu einer allegorischen und zu einer realistischen . Beide sollen im Folgenden expliziert werden. Eine solche Explikation wird indessen nicht mit dem Ziel unternommen, eine der beiden Lesarten als vorrangig zu kennzeichnen. Ebenso wenig aber soll die Gleichberechtigung beider konstatiert werden, als stehe es letztlich im Belieben des Lesers, sich einer Lesart, aus welchen Gründen auch immer, anzuschließen. Vielmehr gilt es durchsichtig zu machen, dass sich das wesentliche Sinngeschehen dieses Romans nur aus dem Spannungsverhältnis zwischen der allegorischen und der realistischen Lesart begreifen lässt.
Es geht Dostojewskij um die Integration der allegorischen in die realistische Lesart, ohne dass die
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