Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Jüngling den Typus des noch machtlosen Ehrgeizigen vorliegen, der ein Rothschild werden möchte, aber unter gegebenen Umständen auch ein Hitler werden könnte, denn da sind die ausformulierten Machtträume des noch völlig machtlosen Neunzehnjährigen, den seine schmerzlich empfundene Ohnmacht maßlos antreibt.
Zweifellos hat Robert Musil, ohne eine künstlerische Wertung abzugeben, das Potential des Ernstes erkannt, das sich in Dostojewskijs Lebensbeichte eines Zwanzigjährigen ausspricht. Die Hölle der Pubertät wird von Dostojewskij als ein Schwanken zwischen sittlicher Selbstbesinnung und desperater krimineller Untat gestaltet.
Ein grüner Junge unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von allen anderen Romanen der großen Fünf. In ihm fehlt der Mord. Zwar ließ die Analyse der Schlussszene erkennen, dass die Ermordung der weiblichen Hauptgestalt nur durch einen Zufall nicht zustande kam. Das große Publikum Dostojewskijs konnte dies aber offensichtlich nicht verzeihen. Es kennt kein Pardon, wenn es um seine Sensationslust geht. Schnell war bekannt: hier fehlt die hervorstechende Eigenart des Meisters aus Russland: das Verbrechen. Aber nicht nur das. Es sei in Erinnerung gebracht: die Poetik Dostojewskijs lebt von fünf inhaltlichen Wirkungsfaktoren: Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Religion und Politik. Wenn also das Verbrechen im Grünen Jungen nicht zustande kommt und nur reduziert auf die im letzten Moment verhinderte Absicht im Raume steht, so lässt sich solche Reduktionsform auch für die weiteren vier Wirkungsfaktoren feststellen: Was den Wirkungsfaktor Krankheit betrifft, so ist zwar für Arkadij Dolgorukij ein schwerer psychosomatischer Zusammenbruch zu verzeichnen; was aber ist das gegen die epileptischen Anfälle des Fürsten Myschkin oder den halluzinierten Teufel Iwan Karamasows! Von Maurice Lambert heißt es, er habe auf einem Hotelzimmer eine Prostituierte misshandelt, aber das ist nichts gegen Swidrigajlows libidinöse Vorlieben oder Stawrogins sadistische seelische Folterung einer Minderjährigen, die er nach der Kopulation in den Selbstmord treibt. Und die Religion? Sie ist nur in der Gestalt des frommen Pilgers Makar Dolgorukij anwesend. In Verbrechen und Strafe aber lesen der Mörder und die Hure gemeinsam in der Bibel. Nur was die Politik betrifft, lässt Dostojewskij seine immense Schlagkraft durchblicken: Arkadij Dolgorukij verschreibt sich mit seiner Idee, ein Rothschild zu werden, dem jüdischen Wucherzins, und die negativste Gestalt ist ein waschechter Franzose mit schwarzem Haar, Hakennase und der Unfähigkeit, ein russisches rollendes R zu sprechen: Maurice Lambert. Was die zwei weiteren, das heißt die nicht inhaltlichen Wirkungsfaktoren angeht: Komik und maliziöse Erzähltechnik, so spielt Dostojewskij auch in diesem Roman beides voll aus.
Fazit: Von den inhaltlichen Wirkungsfaktoren werden vier nicht mit der gewohnten Intensität in Anschlag gebracht. Aber solche Reduktion war zweifellos Dostojewskijs Absicht: als Konsequenz nämlich der dargestellten Sache. Arkadij Dolgorukij wurde als Muster normaler Identität konzipiert, allerdings im Banne einer Krise, die ihn zum Erzähler werden lässt. Pubertät als ernst genommene Durchgangsphase, Sozialisation als zweite Geburt. Eugène-Melchior de Vogüés Diktum, man könne Dostojewskij den Shakespeare des Irrenhauses nennen, trifft zwar auch für diesen Roman zu, gilt aber nur bedingt für Arkadij Dolgorukij, wenn er sich auch von der Verrücktheit seiner Umwelt regelrecht angesteckt fühlt. Ihm fehlt die Besessenheit. Vom großen Publikum ist Dostojewskij dafür abgestraft worden. Ein grüner Junge ist das am seltensten gelesene Werk unseres Meisters aus Russland. Eine künstlerische Leistung dieses Ranges aber kann warten, bis ein Publikum reif für sie ist. Karl Nötzel nennt in seiner 1925 erschienenen Monographie Das Leben Dostojewskijs den Jüngling (so der geläufige Titel) »offenbar das […] dem Gegenstand nach modernste aller Werke Dostojewskijs«. [105]
Die Brüder Karamasow
Einstieg
Die Brüder Karamasow . Roman in vier Teilen mit einem Epilog ( Brat’ja Karamazovy ). Entstanden Anfang 1878 – November 1880. Erstdruck in »Der russische Bote« (Russkij vestnik) Januar 1879 – November 1880. Erstausgabe Petersburg 1881. Verfasst in Petersburg, Staraja Russa, Bad Ems, Moskau, abgeschlossen in Petersburg.
Das Werk wird von einem Chronisten erzählt, der zu den meisten Personen seiner Geschichte
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