Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Double Cross. Falsches Spiel

Double Cross. Falsches Spiel

Titel: Double Cross. Falsches Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
Vom Netzwerk:
unter Belagerung, war wehrlos, verängstigt und in einem Zustand höchster Verwirrung. Pläne wurden ins Auge gefaßt, die königliche Familie nach Kanada zu evakuieren, und die Regierung forderte die Bürger auf, die Kinder aufs Land zu schicken, wo sie vor den Bombern der deutschen Luftwaffe sicher waren.
    Durch geschickte Propaganda hatte die Regierung die Öffentlichkeit vor der Gefahr gewarnt, die durch Spione drohte durch die sogenannte ›fünfte Kolonne‹. Und jetzt hatte sie die Folgen zu tragen. Die Polizei wurde mit Berichten über ›Fremde‹, ›verdächtige Zeitgenossen‹ und ›deutsch aussehende Gentlemen‹ überhäuft. Bürger belauschten Gespräche in Pubs, hörten, was sie hören wollten, und meldeten es dann der Polizei.
    Sie berichteten über vermeintliche Rauchsignale, Blinkzeichen an der Küste und Spione, die angeblich mit dem Fallschirm vom Himmel geschwebt waren. Das Gerücht ging um, daß sich deutsche Agenten bei der Besetzung der Niederlande als Nonnen verkleidet hätten, und prompt war jede Nonne verdächtig. Die meisten wagten sich nur noch aus dem Schutz ihres Klosters hervor, wenn es unbedingt notwendig war.
    Eine Million Briten, die für den Dienst in der Armee zu jung, zu alt oder zu schwächlich waren, traten eilends der Bürgerwehr bei. Da für die Bürgerwehr jedoch keine Gewehre erübrigt werden konnten, bewaffneten sie sich mit dem, was gerade zur Hand war - Schrotflinten, Schwertern, Besenstielen, mittelalterlich anmutenden Keulen, Gurkha-Messern, ja, sogar Golfschlägern. Wer keine geeignete Waffe fand, wurde angewiesen, stets Pfeffer bei sich führen, um ihn im Bedarfsfall marodierenden deutschen Soldaten in die Augen zu schleudern.
    Vicary, ein namhafter Historiker, verfolgte die nervösen Kriegsvorkehrungen seiner Landsleute mit einer Mischung aus tiefem Stolz und stiller Niedergeschlagenheit. Das ganze letzte Jahrzehnt hindurch hatte er in Zeitungsartikeln und Vorträgen unermüdlich darauf hingewiesen, daß Hitler für England und die übrige Welt eine ernste Bedrohung darstelle. Doch die Briten, noch erschöpft vom letzten Waffengang mit den Deutschen, hatten von einem neuerlichen Krieg nichts hören wollen. Und jetzt stießen die deutschen Panzer mit einer Leichtigkeit nach Frankreich vor, als handele es sich um einen Wochenendausflug. Nicht mehr lange, und Adolf Hitler herrschte über ein Reich, das sich vom nördlichen Polarkreis bis zum Mittelmeer erstreckte. Und Großbritannien, schlecht gerüstet und mangelhaft vorbereitet, stand allein gegen ihn.
    Vicary beendete den Artikel, legte den Stift weg und las den Text noch einmal durch. Draußen tauchte die Sonne in ein Meer von Orange über London. Der Duft der Krokusse und Narzissen, die in den Londoner Parks blühten, wehte zum Fenster herein.
    Es wurde empfindlich kühl, und wegen des Blütenstaubs würde er wahrscheinlich einen Niesanfall bekommen. Doch die Luft strich wohltuend über sein Gesicht, und sogar der Tee schmeckte besser, also ließ er das Fenster offen.
    Der Krieg hatte sein Denken und Handeln verändert. War er früher an seinen Landsleuten fast verzweifelt, so betrachtete er sie nun mit mehr Wohlwollen. Er staunte darüber, daß sie Witze rissen, wenn sie bei Luftangriffen in die schützenden U-BahnSchächte strömten, und daß sie in den Pubs sangen, um ihre Angst zu verbergen. Es hatte eine Weile gedauert, bis Vicary erkannte, daß seine Gefühle nichts anderes waren als Patriotismus. Im Zuge seiner lebenslangen Forschungen war er zu dem Schluß gekommen, daß es keine destruktivere Kraft auf der Welt gebe. Nun aber verspürte er selbst patriotische Wallungen in der Brust, und er schämte sich ihrer nicht. Wir sind die Guten, sagte er sich, und die anderen sind die Bösen.
    Unser Nationalismus ist vertretbar.
    Vicary hatte beschlossen, selbst einen Beitrag zu leisten. Er wollte etwas tun und die Vorgänge nicht mehr nur durch das Fenster seiner wohlbehüteten Welt betrachten.
    Um sechs Uhr trat, ohne vorher anzuklopfen, Lillian Walford ein. Sie war groß, hatte die Beine einer Kugelstoßerin und trug eine Brille mit runden Gläsern, die ihrem Blick einen noch strengeren Ausdruck verlieh. Mit der unauffälligen Effizienz einer Nachtschwester begann sie, Papiere zusammenzuraffen und Bücher zuzuklappen.
    Eigentlich war sie allen Professoren des Colleges zugeteilt.
    Doch sie glaubte, daß Gott in seiner unendlichen Weisheit jedem Menschen eine arme Seele anvertraue, um die er sich zu kümmern

Weitere Kostenlose Bücher