Double Cross. Falsches Spiel
habe. Und wenn es eine arme Seele gab, die des Beistands bedurfte, dann war es Professor Vicary. Seit zehn Jahren kümmerte sie sich mit militärischer Präzision um die kleinen Dinge in Vicarys überschaubarem Leben. Sie sorgte dafür, daß in seinem Haus am Draycott Place in Chelsea stets eine Mahlzeit bereitstand. Sie achtete darauf, daß seine Hemden pünktlich geliefert wurden und die richtige Menge Stärke enthielten - nicht zuviel, damit er sich nicht die zarte Haut am Hals wundscheuerte. Sie beglich seine Rechnungen und hielt ihm regelmäßig eine Standpauke wegen seines nachlässig verwalteten Bankkontos. Immer wieder stellte sie neue Dienstmädchen ein, da seine Anfälle von Übellaunigkeit die alten vertrieben. Trotz ihres engen Arbeitsverhältnisses redeten sie einander nicht mit dem Vornamen an. Sie war Miss Walford, und er war Professor Vicary. Am liebsten nannte sie sich seine ›persönliche Assistentin‹, und Vicary ließ sie, ganz gegen seine sonstige Art, gewähren.
Miss Walford huschte hinter Vicary vorbei und schloß, ihm einen tadelnden Blick zuwerfend, das Fenster. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Professor Vicary, werde ich jetzt nach Hause gehen.«
»Aber natürlich nicht, Miss Walford.«
Er sah zu ihr auf. Er war ein fahriger Gelehrter, kleingewachsen und bis auf ein paar widerspenstige graue Strähnen kahl. Auf seiner Nasenspitze saß, geduldig leidend, eine Lesebrille mit halbmondförmigen Gläsern, über und über mit Fingerabdrücken verschmiert, da er die Angewohnheit hatte, sie ständig auf-und abzusetzen, wenn er nervös war. Er trug eine verschlissene Tweedjacke und eine nicht dazu passende Krawatte voller Teeflecken. Sein Gang wurde an der Universität belächelt, und ohne daß er davon wußte, hatten einige Studenten gelernt, ihn perfekt zu imitieren. Seit einer Verwundung durch einen Granatsplitter im Ersten Weltkrieg hatte er ein steifes Knie und hinkte beim Gehen - wie ein Spielzeugsoldat, der nicht mehr richtig funktioniert, dachte Miss Walford. Gewöhnlich neigte er den Kopf nach vorn, so daß er über die Brille hinwegspähen konnte, und ständig schien er irgendwohin zu eilen, wo er eigentlich gar nicht sein wollte.
»Mr. Ashworth hat vor ein paar Stunden zwei schöne Lammkoteletts in Ihr Haus geliefert«, sagte Miss Walford und runzelte beim Anblick eines unordentlichen Papierstapels die Stirn, als habe sie ein ungebärdiges Kind vor sich. »Er sagt, daß er in nächster Zeit kein Lamm mehr bekommt.«
»Das glaube ich gern«, sagte Vicary. »Im Connaught steht schon seit Wochen kein Fleisch mehr auf der Speisekarte.«
»Langsam wird es ein wenig grotesk, finden Sie nicht auch, Professor Vicary«, sagte Miss Walford. »Heute hat die Regierung angeordnet, daß die Dächer der Londoner Busse grau gestrichen werden sollen wie Schlachtschiffe. Sie glauben, daß sie von der deutschen Luftwaffe dann schwerer bombardiert werden können.«
»Die Deutschen sind skrupellos, aber selbst sie werden nicht ihre Zeit damit vergeuden, Busse zu bombardieren.«
»Außerdem haben sie verboten, auf Brieftauben zu schießen.
Würden Sie mir bitte erklären, wie ich eine Brieftaube von einer normalen Taube unterscheiden soll?«
»Ich kann Ihnen nur sagen, wie oft ich versucht habe, eine Taube abzuschießen«, antwortete Vicary.
»Übrigens habe ich mir erlaubt, auch Minzsoße zu bestellen«, sagte Miss Walford. »Ich weiß doch, daß es Ihnen die ganze Woche verderben kann, wenn Sie Ihr Lamm ohne Minzsoße essen müssen.«
»Vielen Dank, Miss Walford.«
»Ihr Verleger hat angerufen und gesagt, daß die Korrekturfahnen Ihres neuen Buches zur Durchsicht für Sie bereitliegen.«
»Und das mit nur vierwöchiger Verspätung. Ein Rekord für Cagley. Erinnern Sie mich daran, daß ich mich nach einem neuen Verleger umsehe, Miss Walford.«
»Ja, Professor Vicary. Dann hat Miss Simpson angerufen und läßt Ihnen ausrichten, daß sie heute abend nicht mit Ihnen essen kann. Ihre Mutter ist krank. Ich soll Ihnen sagen, daß es nichts Ernstes ist.«
»Mist«, murmelte Vicary. Er hatte sich auf den Abend mit Alice Simpson gefreut. Sie war seit sehr langer Ze it die erste Frau, an der er ernsthaft interessiert war.
»Ist das alles?«
»Nein, der Premierminister hat angerufen.«
»Was? Warum um alles in der Welt haben Sie mir nicht Bescheid gesagt?«
»Weil Sie unter keinen Umständen gestört werden wollten.
Ich habe das Mr. Churchill mitgeteilt, und er hatte dafür durchaus Verständnis.
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