Dr. med. Erika Werner
Bornholm später, als der Großbauer sie einen Augenblick allein ließ. »Ein Bär, nicht wahr? Aber seine Milz ist übernormal geschwollen, und in der Leber sitzen die Metastasen. Noch merkt er nichts. In drei Monaten sieht es anders aus.« Bornholm steckte sich eine Zigarette an.
»So gemein ist das Leben, liebe Kollegin. So hinterlistig und brutal. Es stiehlt uns die Stunden, und wir merken es erst, wenn es zu spät ist. Man sollte daraus lernen.«
»Was lernen, Herr Oberarzt?«
»Das Leben zu ergreifen, wo man es greifen kann. Man sollte das Leben nicht hinnehmen, sondern ihm entgegenlaufen. Es kommt ja nichts wieder, keine Minute, keine Sekunde. Plötzlich sind sechzig oder siebzig Jahre herum – es geht zu Ende, und man weiß nicht einmal, warum man gelebt hat! Das ist doch furchtbar, Erika! Wenn ich daran denke, bekomme ich Angst. Ich möchte nichts versäumen, was das Leben bietet.«
»Ist das nicht eine gefährlich Philosophie, Herr Oberarzt?«
»Nicht gefährlicher als das Leben selbst.«
»Ich weiß nicht.« Erika hob die Schultern. »Vielleicht bin ich noch zu jung, um das zu verstehen. Ich habe Ziele, Ideale, Vorstellungen, wie mein Leben sein soll.«
»Ich bin mit meinen siebenunddreißig Jahren auch noch kein Greis!« Dr. Alf Bornholm zerdrückte seine Zigarette und trank den Enzian aus. »Aber ich habe gelernt. Ich beneide jeden Menschen, der noch Ideale hat – und gleichzeitig bedaure ich ihn.«
Dann saßen sie im Wagen, sahen zu den Schneegipfeln auf. Sie betrachteten atemlos die herabstürzenden Wildwasser, aßen in einer Sennhütte Spiegeleier mit Speck und tranken frische Milch dazu, wanderten über die Almen und lagen in der Sonne, im hohen Gras, umgeben von Blumen und den schweigenden Bergriesen mit ihren glitzernden Gipfeln und steil abfallenden, zerklüfteten Wänden. Die Klinik war vergessen.
Als die Dämmerung über die Grate kroch und die Sonne hinter den Felsen sank, richtete Erika sich auf. Bornholm lag neben ihr im Gras, mit geschlossenen Augen, als schlafe er. Sie betrachtete ihn lange. Das schmale, kantige Gesicht, den zusammengepreßten Mund, die Falten, die sich in die Mundwinkeln eingegraben hatten, das harte Kinn …
Wieder stieg Angst in ihr auf. Sie sah zur Seite auf die Alm und das Tal, das vor ihnen lag. Es war ja alles Dummheit. Die kleine Assistentin und der große Chirurg. Wie konnte sie nur solchen Unsinn denken?
Mit einem Sprung stand sie auf. Bornholm blinzelte zu ihr hoch.
»Warum diese Unruhe?«
»Es wird dunkel. Wir fahren bestimmt drei Stunden bis zur Klinik.«
Bornholm sah auf seine Uhr. »Schon sechs … Wir müssen tatsächlich fahren!« Er sprang auf, legte den Arm um Erikas Schulter und zog sie an sich. »War das ein schöner Tag?« fragte er.
Erika nickte verstört. »Ja«, sagte sie leise. Sie befreite sich aus seinem Griff und strich die Haare aus dem Gesicht. »Gehen wir …«
Sie rannte den leichten Hang hinab zum Weg, wo der Wagen parkte. Ihr weiter Rock flatterte, die Haare wehten im Wind.
Bornholm sah ihr nach. Seine Unterlippe wölbte sich leicht vor. »Elf Jahre jünger als ich. Elf Jahre Jugend – man kann sie nicht einholen. Man kann sie nur nehmen, erobern, an sich reißen.«
Langsam ging er hinunter. Erika saß schon im Wagen. Das Radio plärrte einen Charleston.
Er stieg ein und ließ den Wagen an. Vorsichtig fuhr er hinab auf die Chaussee, aber nicht zurück ins Tal, sondern weiter in die Berge. Über steile Serpentinen schraubte er sich in die Felsen, bis die Straße enger wurde, die feste Decke aufhörte und nur ein Schotterweg in die Wildnis zu führen schien.
»Verfahren wir uns nicht?« fragte Erika und sah mit einem leichten Schauder hinaus. Neben ihr fiel der Berghang steil ab, bewachsen mit Krüppelkiefern und Latschen.
Alf Bornholm bremste. Mit jugendlichem Schwung sprang er auf den Weg.
»Hier wartet unser Abendessen.«
»Hier?«
»Lassen Sie sich überraschen, Erika.«
Nach ein paar Schritten standen sie vor einem kleinen, weißen Haus mit hellgrünen Fensterläden, einem winzigen, verwitterten und zugewachsenen Garten und einem mächtigen Stapel Holzscheite. Die Läden waren zugeklappt, die Tür verriegelt. Erika blieb stehen.
»Fehlanzeige – niemand zu Hause!«
»Aber ja«, lachte Bornholm. »Wir sind doch da!«
Er griff in die Tasche, zog ein Schlüsselbund heraus und begann aufzuschließen.
»Na, ist das vielleicht keine Überraschung?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Ich werde uns ein Abendessen
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