Dr. Ohio und der zweite Erbe
„Ich bin fertig. Wir können gehen.“
„Hm.“ Erika war unzufrieden.
„Wir haben noch Zeit“, sagte sie. „Ich habe von ... das mit Höpfner erfahren und vielleicht möchten Sie mit jemandem reden?“ Sie lächelte ihn mit geschlossenen Lippen an, ein leichtes Beben schien sie zu erschüttern, das bei Dr. Ohio ein Gefühl von Ungewissheit oder Ahnung angesichts eines schon lange nicht mehr ausgebrochenen Vulkans erweckte. Sie sah ihm gerade in die Augen.
„Je früher wir beginnen, desto früher sind wir fertig“, beeilte er sich zu sagen und stapfte an ihr vorbei, bevor sie eventuell seine Hand nehmen oder etwas ähnlich Mitfühlendes versuchen konnte.
Das Gebäude mit den Appartements wurde das Ärztehaus genannt und war durch einen unterirdischen Gang mit dem Hauptgebäude des Sanatoriums verbunden. Die Patienten waren meistens wohlhabende Leute: Manager mit Burn-out-Syndrom, gealterte Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich hierher zurückgezogen hatten, um ihren Spleen zu kultivieren, und einige degenerierte junge Männer, die eine lange Ahnenliste vorweisen konnten. Die wenigen, die nicht freiwillig hier waren, wurden fast ausschließlich von Dr. Ohio betreut. Auch hier stammten viele aus wohlhabenden Familien. Einige Patienten mit schweren psychischen Störungen nahm Dr. Manstorff, der Chef der Klinik, auch aus humanitären und Prestigegründen auf.
Er und seine Frau kümmerten sich hauptsächlich um die Wehwehchen der Schönen und Reichen, deren hauptsächliches Problem oft das in Alkohol ertränkte Desinteresse der Öffentlichkeit war. Dr. Ohio war dagegen für die „wahren Irren“ verantwortlich, wie Dr. Manstorff manchmal kichernd sagte. Brigitte, seine Frau, die ebenfalls als Ärztin im Sanatorium arbeitete, verdrehte dann die Augen und Ohio sagte nichts.
Er ging mit Erika den langen, niedrigen und spärlich beleuchteten Gang zum Hauptgebäude entlang. Seine Schuhe gaben auf dem gelblichen Linoleumboden ein leichtes Quietschen von sich. Weiter vorne flackerte das weiße Licht des Aufzugs und ein leichter Windzug kam aus dem Treppenhaus. Die Tür des Lifts öffnete sich und Dr. Brigitte Manstorff stieg aus. Sie winkte, als sie Ohio und Erika sah. Dr. Ohio kam kurz aus dem Tritt, als ob sein Herz einen kleinen Sprung gemacht hätte. Er fing sich aber sofort wieder.
„Ah“, lachte Dr. Manstorff. „Das seltsame Paar.“ Sie zwinkerte Ohio zu.
„Höpfner ist tot“, sagte Erika dunkel, blitzte Dr. Manstorff aus ihren blauen Augen an und ging weiter.
„Was?“ Dr. Manstorff sah Ohio betroffen an und fasste ihn am Arm. Ohio zuckte ein klein wenig zurück. Sie runzelte die Stirn.
„Das tut mir leid. Entschuldige“, sagte sie, und leiser: „Das war dein einziger Freund hier, nicht wahr?“
„Wir Japaner legen mehr Wert auf die Familie.“ Dr. Ohio lächelte vielsagend.
Dr. Manstorff schüttelte den Kopf. Sie war noch immer eine schöne Frau, auch wenn sie die 40 schon weit hinter sich gelassen hatte. Ihre Stirn war nicht mehr so glatt wie früher, um den Mund zogen sich ein paar scharfe Falten und an den Hüften hatte sie etwas zugelegt. Aber ihre braunen Locken, die sie heute zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, ihre forschenden, blaugrauen Augen und ihr spöttisches, kleines Lächeln waren wie früher. Dr. Ohio konnte es nie vergessen.
Wie lange ist das her, dachte er, während er sie betrachtete. Sie hatten in Tübingen zusammen studiert. Brigitte war gerade 20 gewesen und er nur wenige Jahre älter. Als Austauschstudent war er für ein Jahr von der Universität in Yokohama gekommen. Und jetzt war er immer noch hier. Wegen ihr, ging ihm durch den Kopf. Aber sie hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als Heinz zu heiraten. Seinen Kumpel Heinz Manstorff ...
„Ich würde dir gerne helfen“, sagte sie. „Oder, wenn du nicht allein sein möchtest ...“
„Ich bin in Begleitung“, erwiderte Ohio und deutete mit einem Kopfnicken auf Erika, die einen Fuß zwischen Tür und Aufzug geklemmt hatte und wartete.
Dr. Manstorff verdrehte die Augen.
„Mmmh. Dieses kleine ...“, sie warf Erika einen Blick zu, „... oder große Biest.“ Dann wandte sie sich wieder zu Ohio. „Du weißt, was ich meine.“
Er lächelte.
„Nicht genau, Brigitte. Und Erika ist kein Biest. Sie ist meine Gehülfin.“ Das ü hatte er von einem Schriftsteller abgeschaut und er fand, dass es Erikas Position etwas mehr Würde verlieh.
„Wie sie mich behandelt, ist, gelinde gesagt, eine
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