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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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entsetzt beide Hände vor die Brust. „Herr Wieri.“
    „Um Gottes willen“, murmelte Wieri blass. Ihre Worte drangen wie durch Watte zu ihm. „Was war denn das?“
    Die Scheune war in die Luft geflogen. Höpfner hatte den Tank inspiziert und mit dem Meterstab den Durchmesser genommen. Er hatte sich umgesehen, irritiert durch ein Klicken aus dem Innern des Tanks. Und dann hatte er noch genug Zeit gehabt zu sehen, wie es den Behälter mit einem weißen, gezackten Blitz zerriss.
    Die Erleuchtung. Stille. Dunkelheit.
    Es gibt die Theorie, man könne einer Explosion nur aus dem Wege gehen, indem man direkt in sie hineinspringt. Man lässt die Druckwelle hinter sich. Da die Teile der Ladung auseinanderdriften, entsteht im Zentrum der Explosion ein Vakuum, ein leerer Raum, in dem man überlebt, wohin auch immer der Weg einen führt.
    Grau ist alle Theorie. Oder Höpfner war nicht schnell genug im Mittelpunkt der Explosion gewesen. Es hatte ihn auseinandergerissen, den vielzähligen Molekülen um ihn herum gleichgemacht. Materie, Material, das der ewige Fluss des Lebens fortspülte, wieder frei zur weiteren Nutzung.

2
    Glitzernder Regen
und aus der dunklen Erde
steigt grün der Frühling
    Höpfner war zum Ende des Frühlings gestorben.  Doch schon , würde sein Rechtsanwalt Dr. Laudtner sagen.  Überraschend , würde Dr. Ohio sagen. Er war erstaunt, wie kalt Höpfners Tod ihn ließ. Sie hatten sich über die Literatur kennengelernt, über japanische Haikus geredet und ziemlich regelmäßig Schach gespielt, in Höpfners Villa, in der „Träumenden Taube“, einer kleinen Tübinger Eckkneipe gegenüber dem Park am Stadtgraben, oder im „Storchen“, der etwas weiter in der Altstadt lag, in einer der schmalen, blumengeschmückten Gassen, in denen die einst krummen und schiefen Häuser renoviert waren und kaum noch an den Mief und Dreck des Mittelalters erinnerten, aus dem sie stammten. Ab und zu saßen sie auch auf der schmalen Veranda von Dr. Ohios kleinem Ärzte-Appartement. Die Wohnung war an das Sanatorium im Schönbuch angeschlossen, in dem er die psychiatrische Abteilung leitete.
    Das Städtchen Waldenbuch in der Nähe war deutlich gewachsen, seit sich vor über 20 Jahren einige Kliniken und Sanatorien hier angesiedelt hatten. Dank des nahe gelegenen Tübingens mit der Universitätsklinik war die Doktorendichte ziemlich hoch und stieg immer noch. Viele der Ärzte hatten an den Hängen von Liebenau und in den umliegenden Dörfern günstige Grundstücke gekauft und gebaut. Junge Ärzte und ältere Junggesellen wie Dr. Ohio lebten allerdings oft in von den Kliniken bereitgestellten Appartements.
    Ohio saß auf der Couch und ließ seinen Blick über das sanft gewellte Land schweifen, über die Wiesen und Felder und den tief hängenden, dunklen Wolkenhimmel, der an wenigen Stellen von Helligkeit durchbrochen wurde. Weit hinten in der Ebene ging ein heftiger Regenschauer nieder. Ein böiger Wind bog die Wipfel der Bäume im Park des Sanatoriums und die düsteren Tannen im Schönbuch.
    „Klopstock“, flüsterte Dr. Ohio, als ein paar schwarze Krähen aufflogen und träge hinüber zu den sprießenden Feldern flappten. Die Wiesen vor dem Haus schimmerten graugrün in Erwartung des Regens.
    Es klopfte. Dr. Ohio legte seine Brille auf den Couchtisch neben sich und fuhr mit der Hand über seine schmalen, dunklen Augen und die an einigen Stellen grau gewordenen, kurz geschnittenen Haare. Er erhob sich, seine Strickjacke und die ausgebeulte Cordhose schlotterten um seine Glieder. Vor der Tür stand seine Gehülfin. Erika nannte sich selbst Assistentin, aber Ohio fand, Gehülfin passe besser zu dem drallen, blonden Geschöpf in ihrem immer etwas zu eng wirkenden, weißen Krankenschwesternkleid, über das sie heute eine Strickjacke gezogen hatte.
    Der Doktor hatte keine Ahnung, wer Erika eingestellt hatte – und warum. Mit der Zeit hatte er sich an dieses große Mädchen gewöhnt. Und er hatte sich daran gewöhnt, dass ihm, wenn er mit ihr auf den Gängen des Sanatoriums unterwegs war, die jungen Ärzte und die männlichen Patienten hinterhersahen. Erika achtete kaum auf die Blicke ihrer Umgebung. Wenn sie mit Dr. Ohio unterwegs war, schenkte sie nur ihm Beachtung.
    Neugierig linste sie an ihm vorbei in den Flur. Sie war noch nie hier gewesen.
    „Hallo Doktor“, sagte sie mit honiggelber Stimme. Ohio lächelte.
    „Hallo.“ Er nahm seinen Arztkittel vom Haken neben der Tür und zog ihn über seine grobe Strickjacke.

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