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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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über den Gletscher. Sie waren auf einem Pfad gekommen, doch der Pfad war verschwunden. Es hatte nicht geschneit. Wie konnte ein Pfad einfach so verschwinden?
    »Du hast uns in die Irre geführt, Jumar«, sagte Christopher. Denn zur Abwechslung ging einmal Jumar voran. Er hatte darauf bestanden.
    »Unsinn«, antwortete Jumar. »Da unten sehe ich ein Stück des Pfades.«
    Christopher strengte seine Augen an, konnte aber nichts erkennen.
    Und nach einer Weile sagte Niya: »Hier müsste jetzt eigentlich dein Pfad sein, was, Jumar?«
    Jumar knurrte.
    »He –«, sagte er dann, »was ist das dort?«
    »Schafe, würde ich sagen«, meinte Niya.
    Tatsächlich, etwas weiter hangabwärts war eine kleine Herde Schafe unterwegs. Ihr Fell wirkte blau gegen das Weiß des Berges, und Christopher erinnerte sich, über blaue Schafe im Himalaja gelesen zu haben.
    »Sie haben einen Bronzestich im Fell«, sagte Jumar.
    »Quatsch«, sagte Niya. »Sie bewegen sich doch. Die sind nicht aus Bronze. Das sind ganz gewöhnliche Schafe.«
    »Von wegen gewöhnliche Schafe!«, meinte Jumar. »Sieh nur! Da, wo sie über den Gletscher hinabklettern, verschwindet der Pfad! Sie – sie nehmen ihn einfach mit! Die Drachen«, flüsterte er. »Die Schatten der Drachen sind auf sie gefallen. Es kommt wohl nie etwas Gutes dabei heraus. Diese Schafe tilgen die Wege, auf denen sie gehen.«
    Die blauen Schafe verschwanden nach und nach hinter einem Vorsprung des Berges, und Christopher schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Wir haben uns verirrt«, sagte er. »Gründlich verirrt.«
    Es war, als hätte es ihren Aufstieg nie gegeben: den Pfad nicht, die Steilwand mit den Haken nicht und auch nicht das Kloster.
    Schließlich kletterten, schlitterten und wanderten sie den Berg querfeldein hinunter: Jumar stapfte voran durch den Schnee, und er behauptete noch Tage später, die blauen Schafe hätten einen Bronzestich gehabt und den Pfad mitgenommen.
    Schließlich taten Niya und Christopher so, als glaubten sie ihm, denn man möchte einen frischgebackenen sichtbaren Thronfolger nicht gleich am ersten Tag in seiner Ehre kränken. Zumindest wenn er ein Freund ist.
    Und so entstand an jenem ersten Tag eine der seltsamsten Schöpfungen der Erde, die nur in großen Höhen oder beim Angeln auftreten: ein Ein-Mann-Gerücht.
    »Wohin wollen wir eigentlich?«, fragte Christopher einige Kilometer weiter. »Ich meine: Was tun wir, wenn wir aus der Kälte und dem Schnee heraus sind? Was dann?«
    »Wir gehen nach Kathmandu«, antwortete Jumar, als wäre das das Selbstverständlichste der Welt. Und Niya nickte. »War das nicht klar?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte Christopher verwirrt. »Keineswegs. Ich war einmal unterwegs zu meinem Bruder, um ihn zu befreien und nach Hause zu holen. Aber jetzt weiß ich manchmal überhaupt nicht mehr, wohin ich unterwegs bin. Die Spur meines Bruders jedenfalls haben wir verloren. Nicht wahr?«
    Er hoffte, dass jemand ihm widersprach. Doch es widersprach niemand.
    »Wenn der große T bereit ist, zieht er nach Kathmandu«, sagte Jumar stattdessen. »Kartan wird ihn dort erwarten. Und dann kommt die Stelle mit Schutt und Asche ... und so weiter. Bis dahin sollten wir dort sein, um das Schlimmste zu verhindern.«
    »Was hast du vor?«, fragte Christopher.
    »Das«, sagte Jumar bedächtig, »werde ich wissen, wenn wir dort sind.«
    Weiter oben in den Bergen jedoch, weit weg von allem – vielleicht unerreichbar weit –, saß ein alter Mönch in einem Raum mit bunt bemalten Wänden. Er hatte die Augen geschlossen, und man hätte sagen können, er meditierte: Er hatte seine Seele schwerelos auf die Reise geschickt und war frei von Gedanken, in jenem Schwebezustand des Geistes, ungebunden und gänzlich jenseits der Fesseln irdischer Geschehnisse und Gefühle.
    Aber vielleicht stimmte es nicht.
    Vielleicht dachte er nach.
    Vielleicht war auch er verstrickt in Gedanken und Gefühle ... und wo liegt die Grenze zwischen Irdischem und Unirdischem?
    Vielleicht sah seine schwebende Seele einen Jungen in der Höhle eines Drachen zittern, vielleicht begegnete sie später drei Wanderern auf dem Weg hinunter.
    Vielleicht neigte sich seine Seele einem Gefühl zu, das er lange vergessen hatte – einem Gefühl, das der Farbe Blau glich. Vielleicht erwog jene Seele zu vergeben.
    Noch eine letzte Chance zu gewähren.
    Vielleicht.
    Es war Nachmittag, als sie die Geier sahen.
    Ihre riesigen Schwingen kreisten in beunruhigender Tiefe vor dem Blau des Himmels, und

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