Drachen der Finsternis
Christopher sah ihre Schnäbel blitzen. Einer der Vögel flog einen Bogen und strich über sie hinweg, und die Spitze seines Flügels berührte Christopher beinahe.
Er schauderte.
»Irgendetwas muss dort vorne liegen«, sagte Niya. »Ein totes Tier vermutlich.«
Und dann sahen sie den dunklen Fleck auf dem weißen Hang, um den die Geier sich sammelten. Aber es war kein totes Tier. Es war ein Mensch.
Niya feuerte einen Schuss ins Leere ab, und die Tiere flogen erschrocken auf, doch sie drehten nicht ab, sie blieben in der Luft hängen und warteten, dass sie ihr Mahl fortsetzen konnten, warteten in bedrohlichen, braungrauen Schleifen.
Der Tote lag nicht auf dem Schnee, er lag auf einem notdürftig zusammengebundenen Gestell aus Ästen. Bahnen von grünem Zeltstoff hielten sie zusammen, und an einer Ecke des Gestells flatterte ein Stück roter Stoff im Wind wie eine Fahne. Christopher wollte nicht näher gehen, aber er folgte Niya und Jumar, und plötzlich merkte er, dass er genau neben dem Gestell stand.
Die Geier mussten bereits vor einer Weile mit ihrer gründlichen Arbeit begonnen haben. Stücke des Toten fehlten.
Christopher wandte sich ab. Er kämpfte die Übelkeit gewaltsam nieder und trat einige Schritte zurück. Niyas Stimme drang zu ihm wie durch Watte.
»Die rote Fahne und die Zeltbahnen verraten genug. Das ist einer von ihnen. Einer von den Maos. Sie waren hier. Und vielleicht sind sie noch immer in der Nähe.«
Über ihnen erklangen die Schreie der Geier, schrill und ungeduldig, und so ließen sie ihnen den Toten und wanderten weiter durch die weiße Höhe. Aber jetzt sahen sie sich um, jetzt wurden sie vorsichtig: Jetzt konnte in jeder Kuhle ein Beobachter lauern, hinter jeder Kuppe des Berges eine Gestalt am Boden kauern. Hinter jedem Felsen verbarg sich die Gefahr. Niya wandte den Kopf hierhin und dorthin, nervös wie ein Tier, das die Ohren aufstellt.
Und dann begann es zu schneien.
Zuerst spürte Christopher nur die Bewegung in der Luft, dann sah er einzelne, winzige Flocken tanzen, unstet noch, zögernd, und schließlich brachen die Schranken am weißen Himmel, unsichtbare, unbekannte Schranken in weiteren Höhen, die kein Mensch je betreten würde, und der Schnee legte sich als Vorhang zwischen sie und die Welt, eine kompakte, kalte Wand in der Luft, die mit jedem Schritt wich, die ihre Schritte durchließ, nicht jedoch ihre Blicke.
»Verflucht«, sagte Niya. »Ich möchte nicht über einen zweiten Toten stolpern. Und viel weniger noch über einen Lebenden. Einen von denen.«
Und Christopher dachte, dass »denen" früher »uns" gewesen war, und wie seltsam doch das Leben sich benahm – eine dichte, weiße Wand aus Seltsamkeit, Unverstandenheit und Unver-ständlichkeit umgab jeden ihrer Schritte; eine Wand, die zu weichen schien und doch den Blick niemals durchließ. Jedes Vorwärts war nichts als ein Tappen im Dunklen.
Und ab und zu stolperte man durchaus über einen Toten.
Er merkte, wie seine Gedanken sich in feuchtschwere Symbolik verrannten, und riss sich zusammen. Auch das – das war der Schnee. Er hatte hier so eine Art Absolutheit, die die Gedanken in den Köpfen einfing ... er schluckte selbst die Geräusche und ließ einen die Welt vergessen.
»Wir dürfen uns nicht verlieren«, sagte Niyas Stimme vor ihm aus den Schneeschleiern. Hinter ihm wanderte Jumars Umriss durch den Schnee. »Gib mir deine verdammte Hand«, sagte Niya. »Und nimm Jumar an die andere.«
Christopher gehorchte wortlos. Und so wanderten sie wie Kinder durch das weiße Nichts, jenes flockige Unterwasser, jene gesichtslosen Untiefen. Drei Kinder, verloren in einer Abwesenheit von Farben und Geräusch. Niyas Hand in Christophers war schmal und steckte in einem Wollhandschuh. Er sah durch die Schneeschleier die abgeschnittenen Enden der Handschuhfinger und ihre eigenen rotkalten, nackten Fingerspitzen: Schusshand-Fingerspitzen. Er spürte ihre Kälte und dachte zurück an die Nacht vor der geschmolzenen Stadt, in der jene Kälte sich in Wärme verwandelt hatte, plötzlich und lodernd.
Oder hatte er diese Wärme nur geträumt? Aber was für ein schöner Traum es gewesen war ... er konnte die Berührung ihrer Finger, handschuhlos, noch spüren ...
... und lag bäuchlings im Schnee.
Seine ausgestreckte Hand umklammerte noch immer die von Niya, und ihre Finger krallten sich schmerzhaft in seinen fest. Jumar stolperte, ließ seine Hand los und fiel halb auf ihn, und kalter Schnee presste sich an seine
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