Drachen der Finsternis
Wangen.
Er sah auf, verstört, begriff nicht –
Niya war fort. Da war ihre Hand in der seinen, aber er konnte sie nicht mehr sehen. Ihr ganzes Gewicht zog an seiner Hand. Und er hörte ihr Keuchen, gedämpft vom Schnee, ihre Stimme, die etwas schrie, das er nicht verstand ...
Die Felswand. Es war die Felswand. Die gleiche Felswand, durch die sie schon einmal geklettert waren. Irgendwann hatten sie wieder auf sie stoßen müssen.
Niya war über ihre Kante getreten, ins Nichts.
Und da hing sie – hing an Christophers Hand, und der Schnee fiel, und fiel, und fiel.
Christopher schrie.
Gleichzeitig zog er. Er zog mit aller Kraft, robbte rückwärts, fühlte, wie er auf den Abgrund zurutschte, wie Jumar ihn festhielt, wie er Zentimeter um Zentimeter gewann ...
Sein Schrei verebbte, und er kämpfte in vollkommener Stille weiter gegen die Schwerkraft an. Alles, was er hörte, war sein eigenes Keuchen – ein Keuchen in seinem Kopf, das ihn ganz ausfüllte. Wenn seine Hände nur nicht so kalt gewesen wären. Wenn sie nur nicht losließ. Wenn – er bekam eine zweite Hand zu fassen, fand endlich mit den Knien Halt im verschneiten Untergrund – und dann, mit einer letzten Anstrengung, hatte er es geschafft.
Im nächsten Moment lag sie neben ihm im Schnee, schwer atmend. Er zählte vier schwere Atemzüge.
Dann fluchte sie.
Und dann setzte sie sich auf und strich sich den Schnee aus dem Gesicht. Jetzt fielen die Flocken weniger dicht. Womöglich hatte auch der Schnee sich erschreckt.
»Das war –«, sagte Niya und fand kein passendes Adjektiv.
»Tief?«, schlug Jumar vor.
Christopher lachte. Er spürte, wie die Erleichterung warm und weich durch seine Adern floss. Als sie aufstanden, gab der Schnee den Blick auf den Abgrund frei – einen verschleierten Blick noch, alles andere als klar, aber klar genug, um die Kante zu sehen. Zwei Meter Sicht, drei vielleicht. Dahinter war noch immer alles weiß, verhangen, ungewiss.
Der Abgrund jedoch war gewiss genug.
Sie wandten sich nach rechts und wanderten schweigend daran entlang.
Und wenn, sprach eine kleine Stimme in Christophers Kopf –wenn wir uns nicht an den Händen gehalten hätten? Wenn –
Er befahl der Stimme zu schweigen.
»Da«, sagte Niya. »Da sind sie.«
»Wer?«, fragte Christopher. Die, die den Toten aufgebahrt haben«, antwortete sie leise.
»Welchen Toten?«, fragte Christopher verständnislos. Aber dann kehrte das Bild zurück. Geierflattern. Ein lebloser Körper. Niya hatte recht gehabt. Sie waren hier.
Das Zelt: einen Steinwurf weit entfernt, weiß wie der Schnee; nur seine Kanten verrieten es. Kein großes Zelt. Es stand unerklärlich nah am Abgrund, wenige Meter trennten es von der Tiefe. Wieso? Wozu?
Die letzten Flocken schwebten lautlos nieder. Und da war noch etwas zu ihrer Linken, dort, wo der Abgrund lag, etwas ragte dort auf – verborgen noch hinter faserigen Nebelschleiern, die die Schneewolken zurückgelassen hatten wie eine Spur – aber zunächst beachteten sie es nicht. Sie standen reglos und starrten das Zelt an.
»Es ist so still«, wisperte Jumar. »Ich habe das Gefühl, es ist überhaupt niemand in dem Zelt.«
Niya nickte und legte den Finger auf die Lippen.
Und ehe jemand weitersprechen konnte, erschienen zwei Gestalten aus dem Nichts.
Oder: Sie erschienen natürlich nicht aus dem Nichts, sie hatten bis jetzt in einer Vertiefung gesessen, auf halbem Weg zwischen ihrem Zelt und den drei Wanderern, und nun standen sie auf, beide gleichzeitig, eine große und eine kleine.
Danach gingen die Dinge zu schnell.
Christopher spürte, wie jemand ihn auf den Boden warf, da war kalter Schnee in seinem Gesicht, schon wieder – eine Explosion in der Luft, direkt neben ihm. Eine zweite, weiter fort. Etwas Warmes lief an seinem Arm hinab. Er wandte den Kopf. Der Schnee neben ihm war rot, und das Rot breitete sich darin aus. Am Rand seines Blickfeldes – Niyas Gestalt in einem seltsamen Winkel von schräg unten, sie kniete und hatte das Gewehr angelegt, um noch einmal zu schießen. Christopher kam hoch und sah in die Richtung, in die sie zielte, hörte den nächsten Schuss, sah die größere der beiden Gestalten stumm fallen wie die automatisch vorbeiziehenden Metallfiguren an Schießständen, die bei jedem Treffer kommentarlos und schicksalsergeben nach hinten umklappen. Und wie schon einmal packte ihn mit Gewalt die Erkenntnis, dass dies keine Metallfigur gewesen war. Er erinnerte sich an die Nacht, in der Niya auf Kartans
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