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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Leute gefeuert hatte, an die dunklen Flecken in jener Nacht –
    Dies war nichts, an das er sich gewöhnen konnte. Er spürte den gleichen eisigen Triumph wie damals und die gleiche brennende Scham.
    Aber da war noch eine Gestalt, noch eine Schießstandfigur, eine kleinere. Ein Junge. Er konnte kaum älter sein als elf oder zwölf, und das Gewehr, das er trug, wirkte grotesk. Als sei auch dem Jungen das aufgefallen, schleuderte er die Waffe von sich, drehte sich um und rannte. Rannte auf das Zelt zu. Der Lauf von Niyas Flinte verfolgte ihn ruhig und sicher. Er konnte so schnell laufen, wie er wollte, ihre Kugel würde ihn finden.
    Christopher sah ihren Finger am Abzug. Er streckte die rechte Hand aus, über die es warm und rot von seinem Arm hinablief, und ein gemeiner Schmerz durchfuhr ihn. Aber seine Hand erreichte ihr Ziel. Sie schlug gegen den Lauf des Gewehres und lenkte die Kugel ab. Niya fluchte wieder. Die Kugel landete irgendwo im Schnee; harmlos, vergeudet.
    Sie sah Christopher erst an, nachdem sie nachgeladen hatte.
    Ihre Augen blitzten ärgerlich, ohne Verständnis.
    »Nicht!«, bat Christopher. »Tu es nicht. Schieß nicht noch einmal.«
    »Weshalb?« Sie spuckte ihm das Wort ins Gesicht, und er streckte abwehrend die Hand aus, deren Haut ein Muster aus roten Linien zierte.
    »Er ist noch so jung«, sagte Christopher. »Und er läuft. Sieh nur. Er läuft um sein Leben.«
    »Er wird uns verraten.«
    »Wenn jemand in diesem Zelt ist, hat er die Schüsse längst gehört«, sagte Christopher.
    Sie sahen gleichzeitig zu dem Zelt hinüber. Doch dort war niemand zu sehen.
    »Das waren die beiden Einzigen«, sagte Christopher.
    Der Junge zögerte vor dem Zelteingang – eine Sekunde. Er schien zu erwägen, in das Zelt zu tauchen. Aber warum? Wie konnte ein Zelt ihm jetzt Schutz bieten? Vor was? Etwas war seltsam ...
    Aber dann änderte er seine Richtung doch, ließ das Zelt hinter sich liegen, floh vom Abgrund fort. Seine dunkle Gestalt verschwand als Punkt im Weiß des Schnees.
    »Es gibt nichts, wo er hinlaufen könnte«, meinte Niya. »Er wird hier draußen elend erfrieren. Meine Kugel wäre besser gewesen für ihn.«
    Jumar schnalzte mit der Zunge. »Es nützt nichts, mit ihm zu streiten, Niya. Ich habe es dir bereits einmal erklärt: Er ist anders. Lass uns nach dem Mann dort im Schnee sehen.«
    »Warte«, sagte Niya. »Christopher? Zeig mir die Wunde.«
    Christopher knurrte, als sie seinen Arm untersuchte. Der Schmerz, der spürte, das jetzt Zeit für ihn da war, wuchs und dehnte sich rot und heiß. Der Stoff der lacke war am Oberarm zerfetzt, und darunter quoll es noch immer rot hervor.
    »Streifschuss«, stellte Niya fest, als hätte Christopher geniest und sie sagte Gesundheit. »Aber wir müssen irgendetwas darumwickeln. Die Blutung stoppen ...«
    Sie trennte mit dem Messer einen Streifen von ihrem Hemd ab, und er zuckte zurück, als sie ihn um seinen Oberarm wickelte.
    »Halt still, verdammt«, zischte Niya. »Warum muss eigentlich immer alles dir passieren? Du würdest nicht einmal auf eine Fliege schießen – das heißt, wenn du auf sie schießen würdest, würdest du sie nicht treffen, aber wenn es einen Streifschuss abzufangen gibt, bist du es, der ihn abbekommt. Wenn es irgendwo ein Feuer gibt, bist du es, der den verfluchten Rauch einatmet, und wenn es kalt genug ist, um krank zu werden, bist du es, der sich die Seele aus dem Leib hustet... andauernd muss man dich vor irgendetwas oder irgendjemandem retten ...«
    Sie befestigte den Stoffstreifen mit einem ruckartigen Knoten, und Christopher schnappte nach Luft vor Schmerz, und dann wurde der Schmerz zu Wut.
    »Dann hör auf damit«, zischte er zurück. »Hör auf damit, mich zu retten. Lass mich liegen und verbluten. Ich hätte wahrhaftig nichts dagegen. Eines Tages wird es mit dir durchgehen, Niya, und dann wirst du in deinem Eifer auch mich erschießen. Einfach so. Du siehst es gern, wie sie umfallen, nicht wahr? Du liebst das Blut und das Gefühl der Macht. Du bist grausam und kalt. Du hast kein Herz.«
    »Nein«, antwortete sie, »ich habe kein Herz, denn Kartan hat mein Herz mit seinen Klauen herausgerissen, als er meine Familie tötete. Dort, wo du herkommst, kann man sich vielleicht ein Herz leisten, aber hier nicht.«
    Jumar räusperte sich. »Ich, äh, unterbreche euch ungern«, sagte er. »Aber könnt ihr euch später weiterstreiten? Ich höre etwas, etwas Seltsames –«
    Sie verstummten, um zu lauschen. Jumar hatte recht.
    Da war

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