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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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einen Schritt auf den Drachen zu und streckte die Hand nach seinem glitzernden Schuppenpanzer aus. »Selbst wenn ich wüsste, wie«, sagte er langsam, »ich kann nichts töten, was so schön ist.«
    Es war, als hätte ihn eine seltsame Trance ergriffen. Seine Angst war noch so stark wie zuvor, doch er spürte sie auf eine andere Weise. Es war, als läge diese Höhle jenseits der Zeit, jenseits der Wirklichkeit, in einem Traum, den der Drache und er gemeinsam träumten. Er würde sterben, mit einem Mal war er sich dessen sicher, aber es schien nicht mehr wichtig zu sein. Womöglich war er gekommen, um zu sterben.
    Seine Hand suchte den glatten Panzer des Drachen, doch sie fand keine Oberfläche. Er spürte eine Berührung, sacht und leicht, und hörte wieder das Flattern der vielen winzigen Flügel.
    »Ich bin nicht, was du denkst«, sagte der Drache. »Ich bin überhaupt nicht. Ich bin weder gut noch böse. Ich bestehe. Ich bestehe aus vielen einzelnen Wesen. Nur die Macht des Mönchs hält mich zusammen. Und das Herz, das deine Farben enthält, erlaubt mir zu sprechen. Die anderen Drachen, die später aus mir entstanden sind, haben keine Herzen. Sie können nicht sprechen, und sie können deine Worte nicht verstehen.«
    »Du ... bestehst. ..?«, fragte Jumar. »Aus vielen einzelnen Wesen?«
    Und dann sah er sie.
    Die Schmetterlinge.
    Es mussten Millionen sein, Milliarden – dicht an dicht schwebten sie in der Luft, flatternd, gaukelnd, sich verdichtend zum Körper des Drachen. Deshalb war bei Niyas Streifschuss nichts vom Himmel gesegelt als ein einziger, toter Schmetterling. Der Drache selbst besaß keinen Körper. Sein Körper war eine Wolke aus bunten, schillernden Flügeln, schöner als alle Schmetterlinge, die es auf der Welt gab – unwirklich schön: strahlend in all den Farben, die der Drache in seinem Leben gefressen hatte.
    Es gab keine Möglichkeit, dieses Geschöpf zu besiegen. Jumars Hand zerteilte seinen Leib, ohne ihm eine Wunde zuzufügen.
    Er sah auf, sah in die tiefen, glühenden Löcher, die da anstelle von Augen über ihm schwebten.
    Und er zwang sich, über die Trance hinauszudenken, in der er sich zu verfangen drohte. Er zwang sich, daran zu denken, was außerhalb dieser Höhle war. Beinahe war es verblasst.
    Er schloss einen Moment lang die Augen. Der Schnee kam als Erstes wieder. Die roten Gewänder der jungen Mönche. Spuren von zwei Paar Füßen, die den Gletscher überquert hatten ...
    »Christopher«, flüsterte Jumar und bekam die Erinnerung an ein Gesicht zu fassen. »Niya.«
    Sie warteten auf ihn, dort draußen, in der eisigen Kälte.
    Beinahe hätte er sie vergessen.
    Er dachte an den Weg durch die Luft, den Christopher nicht hatte gehen wollen und den er doch gegangen war, weil er, Jumar, ihn darum gebeten hatte. Was hatte er gesagt?
    »Du warst schon immer gut mit Worten, weißt du das? Falls du jemals König wirst, werden die Leute dahinschmelzen, wenn du zu ihnen sprichst...«
    Und da, plötzlich, wusste er es. Er wusste, was er zu tun hatte. Es war seine einzige Chance. Worte waren alles, was er hatte, alles, was er beherrschte.
    Er öffnete die Augen und sah den Drachen an.
    »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, sagte er.
    »Eine Geschichte?«, fragte der Drache, faltete die Schwingen mit einem Tausend-Rascheln und ließ sich auf dem Höhlenboden nieder wie eine Katze. »Mir hat noch nie jemand eine Geschichte erzählt. Ist es eine schöne Geschichte?«
    »Schön und schrecklich«, antwortete Jumar. »Gut und schlecht, wundervoll und grausam. Wirst du mir zuhören?«
    »Ich habe vierzehn Jahre lang gewartet«, erwiderte der Drache. »Vielleicht habe ich auf eine Geschichte gewartet.«
    Und so setzte sich der Thronfolger Nepals mit gekreuzten Beinen zwischen die Krallen des Drachen und begann zu erzählen. Zu Anfang wählte er seine Worte mit Bedacht, wog jedes einzelne von ihnen auf seiner Zunge und entließ es nur vorsichtig in die wartende Nachtluft. Doch dann gewann er Vertrauen zu sich selbst, und die Worte glitten aus seinem Mund gleich geschmeidigen Wesen voller Eigenleben, stürzten daraus hervor wie glitzernde, goldene Wasserfälle, breiteten ihre Flügel aus wie schillernde Singvögel, entrollten sich aus seinem Gaumen wie Schlangen, wuchsen aus ihm heraus wie nie gesehene, seltsame Pflanzen.
    Sie hüllten den Drachen ein, und er drehte den Hals hierhin und dorthin, als sähe er ihnen nach.
    Von der schlafenden Königin erzählten die Worte des Kronprinzen,

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