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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sie flatterten mit den Flügeln der Tauben auf dem Durbar Square, sie verfingen sich in einer Falle im tiefen Dschungel und stiegen auf steilen Treppen in die Berge hinauf – sie zitterten mit der Angst der Menschen in den Dörfern, sie rissen mit dem Hunger an den Eingeweiden und fielen mit dem Wasser des unterirdischen Flusses in die Tiefe. Die Worte bissen mit scharfen Zähnen Löcher in die Luft, glühend von Hass und geformt wie Hauptmann Kartan, sie ließen eine Brücke im Nichts verschwinden und sprachen von der Liebe zu einem Mädchen mit schwarzem Haar.
    Von einem Freund, der von weit her kam, sprachen sie, knallten wie Schüsse in der Nacht und knisterten wie Flammen um einen Stall, sprangen als Funken über zur Begeisterung für eine Sache, die nicht war, was sie schien, ritten in eine geschmolzene Stadt hinein voller Schnee und voller Wunden, blickten mit den Augen von Gefangenen in einem Kellerloch in die Welt und flohen in Packkörben. Die Worte ragten mit dem Fishtail-Berg in der blauen Höhe auf und wisperten mit den Geistern der eisigen Winde, drückten mit der Faust der Höhe das Leben aus der Luft und kletterten auf ihren klingenden Silben an eisernen Haken einen senkrechte Wand entlang ... bis sie die roten Flecken von Gewändern im Schnee fanden, bis sie die bunten Gebetsflaggen auf der einsamen Kuppel einer Stupa entdeckten, bis sie sich in die Wahrheit über die Vergangenheit verwandelten.
    Und dann schwiegen sie.
    Jumar lauschte ihrem Nachhall in der Höhle. Es war kein Nachhall von Buchstaben und Lauten – es war ein Nachhall von Bildern und Szenen, von Gerüchen und Geräuschen, von jeder Sekunde, die er auf seiner Reise erlebt hatte.
    Eine kaum wahrnehmbare Bewegung lief durch den riesigen Körper des Drachen, ein leises Zittern, als rückten alle Schmetterlinge ein wenig näher zusammen.
    »Wenn das so ist –«, sagte der Drache.
    Jumar wartete still darauf, dass er weitersprach. Er wartete lange, reglos.
    Und schließlich fuhr der Drache fort: »Wenn das so ist, dann wirst du deine Farben brauchen, um alles zu einem guten Ende zu bringen.«
    Er beugte den Kopf auf seinem langen Hals abermals ganz nahe zu Jumar hinab.
    »Ich schenke es dir«, flüsterte er. »Ich schenke dir mein Herz.«
    »Das willst du tun?«, flüsterte Jumar ungläubig.
    Vierzehn Jahre lang hatte dieser Drache dem Land seine Farben gestohlen und Menschen zu Bronze verwandelt. Und nun –?
    »Ich habe dir gesagt: Ich bin nicht böse«, sagte der Drache. »Aber auch nicht gut. Weil ich nicht bin. Nimm es dir. Nimm dir das Herz. Ich möchte sehen, wie du das Land befreist.«
    »Aber dann – dann bist du gut.«
    »Wer weiß«, sagte der Drache. »Dinge ändern sich. Dinge entstehen. Vergiss nur nicht, was ich dir erklärt habe. Die anderen Drachen haben keine Herzen. Sie kannst du nicht überzeugen. Sie werden weiter tun, was sie immer getan haben.«
    »Aber dann wirst du nicht mehr da sein.«
    »Mein Herz wird da sein.« Seine Worte waren jetzt so leise, dass Jumar sie kaum mehr verstand. Er hörte die Furcht in ihnen. Die Furcht vor dem Nichts. Vor dem Nirgendwo. Vor dem Nichtmehr.
    »Mein Herz wird da sein, in dir«, wisperte der Drache. »Und mit meinem Herzen werde ich sehen, wie deine Geschichte sich hoffentlich zum Guten wendet.«
    »Wie – wie kann ich – was muss ich tun?«, fragte Jumar.
    »Steh auf, sagte der Drache, »und geh durch mich hindurch. Dort, mitten in mir, wirst du mein Herz finden.«
    Jumar erhob sich vom eisigen Boden der Höhle. Er spürte die Kälte nicht.
    Der Drache blieb ganz still sitzen und wartete.
    »Ich danke dir«, flüsterte Jumar. Und dann ging er mitten in die Wolke aus Schmetterlingen hinein. Sie umgaben ihn mit ihren schillernden Körpern, er sah nichts mehr als ihre Farben, hörte nichts mehr als ihr Flattern, fühlte nichts mehr als die sanften, flüchtigen Berührungen der Millionen von zarten, zerbrechlichen Flügeln. Und mitten unter ihnen fand er etwas Ungreifbares, Glimmendes, Unerklärliches, und es vereinte sich mit ihm. Vielleicht waren auch das nichts als Schmetterlinge, deren Körper verschwanden, als sie den seinen berührten. Vielleicht war es etwas ganz anderes. Ein merkwürdiges Gefühl durchströmte Jumar, ein Gefühl, das sich mit nichts vergleichen ließ, was er bis jetzt gefühlt hatte oder was er später jemals fühlen würde.
    Er schloss die Augen und suchte in sich, um Worte dafür zu finden, Worte wie die, die ihn gerettet hatten, doch es gab keine

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