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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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eilig, den Ort zu verlassen, an dem ihnen ein Geist begegnet war.
    Nur die drei Fremden fragten sich, was geschehen war.
    Später verbreitete sich die Nachricht von den Geistern am unterirdischen Fluss unter den Kämpfern der Berge schneller als die Tuberkulose und beinahe so schnell wie der Tod. Und manche Kämpfer schworen von da an, an klaren Tagen könnten sie das Singen der Geister von weit unter der Erde hören.
    Jumar aber kniete sich neben den Körper am Boden und knipste die Taschenlampe an. Ihr Schein fiel auf ein bekanntes Gesicht, umrahmt von feuchtem schwarzem Haar, das eine schöne Platzwunde auf der Stirn freigab.
    Wie still Christopher da lag! Seine Brust hob und senkte sich, aber seine Augen blieben geschlossen. Jumar sagte seinen Namen, zuerst flüsterte er, dann rief er, und dann knipste er die Lampe aus und schwieg lange. Er kauerte auf dem Boden neben Christopher und fror und versuchte, im Dunklen einen Gedanken zu finden – eine Idee, was er tun sollte.
    Was, wenn Christopher nie wieder aufwachte? Wenn er irgendwann auch aufhörte zu atmen? Seine Kehle brannte, und er schluckte und schluckte, aber die Furcht ließ sich nicht hinunterschlucken.
    Schließlich, nach einer oder zwei Ewigkeiten, machte er die Lampe wieder an und fasste den schweren, leblosen Körper unter den Achseln, um ihn hochzuheben. Er konnte ihn nicht hierlassen, was immer auch geschah. Er würde das Tageslicht finden. Wenn er wirklich aufhörte zu atmen, sollte Christopher vorher noch einmal das Tageslicht sehen. Falls er noch einmal die Augen öffnete.
    Er legte sich Christopher über die Schultern wie ein totes Tier und machte sich auf einen langen, mühsamen Weg ins Ungewisse. Neben ihm rauschte nur der Fluss.
    Nie hatte er sich so allein gefühlt.
    Und dann – dann war es Jumar, als regte sich seine sperrige Fracht, ganz leicht nur, kaum merklich –
    »Christopher?«, fragte Jumar den Körper.
    Er setzte ihn auf dem Boden ab, und dann, endlich, schlug Christopher die Augen auf. Er blickte verwirrt, als suchte er etwas hinter Jumar im Dunkel, wo nichts war.
    Und dann sagte er sehr leise: »Könntest du wohl aufhören, mir mit der Taschenlampe in die Augen zu leuchten?«
    Der erste klare Gedanke, den Christopher hatte, war: Licht. Es gab also Licht, Licht im Dunkeln, und es gab eine Stimme neben ihm, und also war er wohl wieder bei Bewusstsein.
    »Jumar«, flüsterte er. »Was ist geschehen? Wo sind wir?«
    »Ziemlich tief unter der Erde«, antwortete Jumar. »Ich bin dir nachgesprungen. Das war alles, was ich tun konnte.«
    »Mir ... nachgesprungen?«, fragte Christopher. »Wohin?«
    »Erinnerst du dich denn nicht?«
    »Ich fürchte, nein. Oh, verdammt. Das Letzte, was ich weiß, ist, dass ich an diesem Tisch mit dem Plastikblumengesteck sitze und einer der Maoisten versucht, mich anzuwerben.«
    Jumar schien kurz zu überlegen. Dann fühlte Christopher, wie eine unsichtbare Hand ihm die Haare aus der Stirn strich.
    »Hübsche Platzwunde hast du da«, sagte Jumar. »Gehirnerschütterung, würde ich sagen. Retrograde Amnesie.«
    »Bitte was?«
    Christopher setzte sich mühsam auf. Die Welt drehte sich um ihn. Und was für eine seltsame Welt es war! Sie schien ganz und gar aus Stoff zu bestehen, endlosen Bahnen von Stoff, der sich in komplizierten Faltenmustern in die Dunkelheit wob. Aber nein, es war kein Stoff. Es war Stein.
    »Retrograde Amnesie. Wir hatten über die Jahre so viele Ärzte im Palast, wegen meiner Mutter, dass ich ein medizinisches Lexikon geworden bin. Retrograde Amnesie bedeutet, dass man sich an etwas nicht erinnert.«
    »Und was tut man dagegen?«
    »Man fragt jemand anderen, was passiert ist.«
    Christopher hörte das Lächeln in Jumars Stimme. »Da war dieser Drache ... und du bist in das Wasserbecken gestürzt – also wegen des Drachen –, und dann bist du einen unterirdischen Wasserfall hinuntergefallen – zwei, um genau zu sein, und dann bin ich dir gefolgt.«
    »Bist du – bist du sicher, dass nicht du es bist, der einen Schlag auf den Kopf abgekommen hat? Hört sich reichlich konfus an.«
    Jumar seufzte. »Kannst du aufstehen?«
    Während er Christopher aufhalf, sagte er. »Ach ja. Und es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht.«
    Die Welt um Christopher hörte langsam auf, sich zu drehen.
    »Ja?«
    »Die gute ist: Es gibt einen Ausweg. Die schlechte ist, dass ich das von ihnen weiß. Den Ma – den Aufständischen. Sie sind irgendwo vor uns. Offenbar war genau das ihr Schleichweg. Nur,

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