Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
überhaupt keine Angst zu haben ...«
    Er schloss die Augen und sah die Küche zu Hause vor sich. Er war wieder sechs Jahre alt, und Arne stand am Herd und backte Pfannkuchen und sang vor sich hin, und von draußen drang das Geräusch des Windes in den Zweigen im Garten. Dann drehte Arne sich um und schenkte ihm ein breites Grinsen: »Pass aber auf, dass du den Rahmen nicht ausdehnst mit deiner Kletterei«, sagte er. »Sonst schlackert die Tür später nur so darin hin und her, und wir müssen sie mit dem Nudelholz ausrollen, damit sie breiter wird.«
    Und der sechsjährige Christopher lachte. Die Welt war in Ordnung.
    Dann wandte sich Arne wieder der Pfanne zu, und als er sich das nächste Mal umdrehte, war es nicht mehr Arne. Christopher erschrak. Der Mann, der jetzt am Herd stand, hatte dunkle Augen, hart wie Granit, und trug über seinem Kopftuch eine Militärkappe.
    Christopher machte die Augen auf.
    Über sich spürte er den Wind der Nacht. Er stieß sich ein letztes Mal mit den Füßen an der Wand ab – dann saß er auf der steinernen Umrandung – eines Brunnens. Er hörte Jumar keuchen, als er sich hinter Christopher hinaufzog.
    Seine Erinnerung hatte ihn den Kamin hinaufgetragen, ans Licht der Sterne.
    Gegen die feuchte Kühle unter der Erde erschien Christopher die Nachtluft beinahe warm. Er blieb einen Moment benommen sitzen. Um sie herum erhoben sich die schwarzen Umrisse von Hütten. Sie waren mitten in einem Dorf herausgekommen.
    Als Christopher die Beine über den Brunnenrand schwang, trat er in etwas Weiches, Nachgiebiges und schrie auf.
    »Jumar«, flüsterte er, »Jumar, gib mir mal die Lampe –«
    Der Lichtkegel fiel auf den ausgestreckten Körper eines Mannes, der leblos neben dem Brunnenrand lag, das Gesicht nach unten. Er war warm, aber er rührte sich nicht. Christopher dachte an die Schüsse. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Körper zu berühren, der da zu seinen Füßen hingestreckt lag. Einmal hatten sie auf der Straße vor ihrem Haus eine tote Katze gefunden, als sie Kinder gewesen waren. Arne hatte sie auf seinen Armen an den Straßenrand getragen, aber Christopher hatte nur so dagestanden, als wären seine Füße mit der Erde verwachsen. Jetzt zwang er sich, niederzuknien und den Körper zur Seite zu rollen.
    Das letzte Licht der Taschenlampe fiel auf ein Gesicht, das Christopher mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Doch diese Augen sahen nichts mehr. Sie waren kalt und hart wie Granit. Das Kopftuch, das die dunklen Haare zurückhielt, war verrutscht, der Mann hatte seine Kappe verloren, und man hatte ihm das Gewehr und den Patronengurt abgenommen.
    Seine Kleidung war dunkel vor Blut. Blut, das jetzt auch an Christophers Händen klebte.
    Christopher suchte einen Puls, fand keinen und stand auf. Ihm war wieder schwindelig. Er taumelte ein paar Schritte zur Seite und übergab sich.
    In jener Nacht, in der die Schüsse fielen, kam ein Fremder in das Dorf unter dem Steilhang.
    An seinen Händen klebte Blut, und er sprach wirr.
    Manchmal änderte seine Stimme kaum merklich ihren Klang, als hätte er zwei Zungen statt einer, aber später war sich niemand ganz sicher.
    Der Fremde war jung und trug wertvolle Kleider, aber sie waren zerfetzt, und auf seiner Stirn klaffte eine Wunde. Er klopfte kurz vor Mitternacht an die Tür des letzten Hauses im Dorf, und zuerst erschraken sie und wollten nicht öffnen. Die Schüsse hatten sie geweckt, und sie hatten seitdem nicht wieder ins Bett zurückgefunden. Sie saßen in der Küche um das offene Feuer, dessen Flamme sie abwechselnd fütterten, und kochten Suppe.
    Es waren ihrer zwölf, alle auf verschlungenen Wegen miteinander verwandt, Junge und Alte, eine blinde Greisin und ein winziges Kind, das in seinen zwei Monaten nur eines gelernt hatte: Wenn in der Ferne die Schüsse fielen, war es besser, still zu bleiben und nicht zu weinen. Der Vater des Kindes sah aus dem kleinen Fenster neben der Tür.
    »Es ist ein Junge«, murmelte er. »Nicht viel älter als vierzehn Jahre, würde ich sagen. Er sieht nicht aus wie einer von ihnen. Und er hat Angst.«
    So ließen sie den Fremden herein, und als sie sahen, dass seine Kleider nass waren, suchten sie andere für ihn und hängten die seinen zum Trocknen auf.
    »Woher kommst du?«, fragte der Mann den Jungen.
    »Aus dem Brunnen«, sagte er. »Daneben liegt ein Toter mit Augen aus Stein –«
    Ein Husten schüttelte ihn, als wäre er zu lange in der Kälte gewesen, und da wussten sie, dass er im

Weitere Kostenlose Bücher