Drachen der Finsternis
sie ihn mitgenommen? Aber wohin? Christopher versuchte, den Kopf zu schütteln, um jenen Augen zu entrinnen. Ein jäher Schmerz raste durch seine Gehirn wie eine Rakete und explodierte hinter seiner Stirn, und er glitt zurück in die weichen Wattenebel der Bewusstlosigkeit.
Nur das Plätschern des Wassers drang in jenen Nebel, und eine andere Erinnerung tauchte aus dem Dunkel auf, eine angenehme Erinnerung voller Licht: plätscherndes Wasser an einem Baggersee. Ein Sommer.
Arne.
Es war, als käme der Arne der Erinnerung ihm zu Hilfe, als schickte er ihm jene gelben Nachmittage, damit Christophers Körper in der Kälte und der Dunkelheit nicht aufgab. Die Sonne jener Erinnerung umgab ihn warm und weich.
Da war er: Arne am See, auf dem Turm der Wasserwacht, in dessen allzu unmittelbarer Nähe sich die Mädchen in ihren winzigsten Bikinis sonnten – der Geruch von Sonnenmilch und Zigarettenqualm in der warmen Luft – er selbst unbemerkt, beobachtend, im Schatten des Wasserwachtturms, zufrieden damit zuzusehen. Und jetzt: Arne im See, um ihn aufspritzende Tropfen-Fontänen.
Lebenswichtige Eile. Was war geschehen, dort draußen im stillen Ultramarin des Baggersees?
Eine undichte Luftmatratze – eine gesunkene Badeinsel – ein umgekipptes Schlauchboot – ein Krampf in einem schlanken Mädchenfuß – was es auch war, Arne war zur Stelle.
Und wie gut, dass er auch einen Erste-Hilfe-Kurs belegt hatte! Wie viele junge Damen sammelten in seinen Armen Nahtod-Erfahrungen und brauchten (dringend!) den Kuss des Lebens ...
Die Erinnerung verblasste. Da war er wieder, der Schmerz in seinem Kopf. Er spürte, dass er zitterte. Er wünschte sich zurück zu Arne an den Baggersee, zurück an einen jener langen Sommernachmittage ... aber etwas zog ihn gewaltsam in die Dunkelheit der Realität. Es war, als riefe jemand von ferne seinen Namen.
Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel auf eine unterirdische Landschaft aus bizarr geformten Felsen. Über dem Fluss bildete der Stein eine Art Halle, deren Decke zu weit weg war, als dass das Licht sie erreicht hätte. Dort, wo sie niedriger war, hingen Armeen von Tropfsteinen von ihr hinunter, und Jumar wich unwillkürlich an die Wand zurück: Es war, als hätte jemand ihre scharfen Spitzen dort aufgehängt, um sie irgendwann auf einen vorbeikommenden Unglücklichen herabsausen zu lassen, und im unsteten Licht der alten Lampe schien es ihm, als bewegten sie sich, ruckten ein wenig in ihrer Verankerung, näherten sich ihm –
Natürlich bewegten sich die Tropfsteine nicht.
»Echo?«, sagte Jumar probeweise.
»Chooo-oooo-ooooo«, hallte es von den Wänden wider.
»Christopher?«, fragte Jumar.
»Ophr, ophr, ophr«, flüsterte das Echo. Sein Flüstern hatte etwas Gemeines, Zynisches, einen hämischen Unterton, und Jumar kniff die Augen zusammen und sah es böse an. Aber das Echo war nirgendwo, wo man es böse ansehen konnte, und blieb unbeeindruckt.
Er ließ das Licht der Lampe über das Wasser des Flusses gleiten, das hier glatt und bleiern lag und sich an ihm vorüberschob wie eine träge Schlange. Am Ufer erstreckte sich eine feuchte, glänzende Felsenlandschaft vor Jumar.
Die Zeit hatte ihre Kanten glatt gewaschen, als wären sie voll Zärtlichkeit von einem Töpfer geformt worden. Auch vom Boden wuchsen schlankhalsige Tropfsteine auf, und Jumar überlegte, welche die Stalagmiten und welche die Stalaktiten waren, kam aber nicht darauf.
Vielleicht war das Licht von Jumars Taschenlampe das Erste, das überhaupt auf diese Landschaft fiel, und sie schien es zu begrüßen – schimmernd wie Perlmutt und glatt wie Seide aalte sie sich in diesem Licht, räkelte sich wohlig in ihrer eigenen, neu entdeckten Schönheit und gab sich einer ganzen Dimension von Unwirklichkeit hin.
Es war die Art unwirklicher Landschaft, bei der gewisse Leute ein unstillbarer Drang überkommt, naturliebende Gedichte zu schreiben. Andere sehen sich genötigt, Pinsel und Leinwand zur Hand zu nehmen und das Unterirdische mittels großer Mengen an rosa Ölfarbe in ein überirdisches Licht zu tauchen – wobei man in jedem Fall nur ein außerirdisch fürchterliches Ergebnis erwarten kann.
Jumar schluckte und räusperte sich, um den Geschmack der Schönheit loszuwerden, denn diese Schönheit war eine kalte, tödliche. Das Echo räusperte sich mit ihm; es klang wie ein sich millionenfach vervielfältigendes Kichern – als säßen die Ritzen und Schatten zwischen den Felsen alle voll mit kleinen, scharf-zähnigen
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