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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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entsetzt.
    »Ich dachte ja nur«, wisperte Jumar und gähnte. »Wo doch in Europa alles anders ist.«
    Er wachte davon auf, dass jemand neben ihm sich ruckartig aufsetzte. Draußen graute der Morgen herauf.
    »Tapa?«, fragte Jumars Stimme.
    »Psst!« machte Christopher, denn auf dem Boden lagen drei der Kinder und schliefen fest.
    »Christopher?«
    »Was ist los?«
    »Ich habe ihn wieder in meinen Armen gehalten«, wisperte Jumar. »Ich habe es dir doch erzählt, nicht wahr? Wie er gestorben ist? Eben hielt ich ihn wieder fest. Da war all dieses Blut –es wurde immer mehr, und ich drohte darin zu ertrinken. Es stieg bis unter die Decke des Korridors, und dann öffnete ich die Tür, und es strömte in den Hof hinaus und riss mich mit... ich konnte gar nichts tun, Christopher, es war zu viel Blut. Viel zu viel Blut...«
    »Es war nur ein Traum, Jumar«, wisperte Christopher: »Das war der unterirdische Wasserfall und dieses seltsame Märchen.«
    »Nein, Christopher«, flüsterte Jumar. »Es war kein Traum. Dieses Blut in den Straßen von Kathmandu ... es war so wirklich. Es wird etwas Fürchterliches geschehen. Ich habe es gesehen.«
    Christopher legte die Arme um ihn, wie Arne früher die Arme um den sechsjährigen Christopher gelegt hatte, und auf einmal kam es ihm nicht mehr komisch vor.
    »Schlaf weiter«, flüsterte er, als spräche er zu einem kleinen Kind. »Du bist so nahe, dass wir nur das Gleiche träumen können. Wir träumen davon, wie es wird, wenn alles vorbei ist. Wir sitzen auf einer Wiese in den Bergen, du und Arne und ich, und die Sonne scheint, und wir kauen Fruchtgummi, ekliges, grünes Fruchtgummi, schon bald, ganz bald ...«
    Aber so bald würden sie auf keiner Wiese im Sonnenschein mehr sitzen.

Christopher flieht
    Der Fremde verließ das Dorf am Steilhang leise. Sie gaben ihm Proviant mit und Wasser, denn sie hatten einen Sohn, der war auch vierzehn Jahre alt, und immer, wenn die Schüsse in der Ferne hallten, bangten sie um ihn. Denn er saß dort in den Bergen, irgendwo bei den Aufständischen, man wollte am besten gar nicht genau wissen, wo, weil man es so niemandem sagen konnte. Und auch er übte das Schießen. Er wollte alles ändern, wie man das mit vierzehn will: die Welt, die Zukunft, das Schicksal.
    Bei den Soldaten war einer, der kannte ihn noch von früher, als er ein kleiner Junge gewesen war. Er hatte nach ihm gefragt, und sie hatten ihm gesagt, er wäre in einer der kalten Nächte gestorben, im letzten Winter. Sie zeigten ihm das Grab.
    Man wusste nicht, wohin der fremde Junge ging, vielleicht war er doch einer von ihnen; vielleicht war er auf der Flucht.
    »Zwei«, sagte die blinde Alte mit den guten Ohren. »Es waren zwei Jungen.«
    Daran dachte die Frau später, als sie ihr ihren Sohn wiederbrachten und sie ihn in das Grab legte, das schon immer das seine gewesen war. Denn da sagte die Alte, die immer wunderlicher wurde: »Aber die beiden, die hier waren, die Fremden, die leben noch, das kann ich in meinen Knochen fühlen. Sie sind auf dem Weg hinauf in die höchsten Berge, zu den eisigsten Gipfeln. Hah! Das wird gewiss ein schönes Märchen. Vermutlich geht es schlecht aus.«
    Und sie rieb sich die spinnenfingrigen Hände und starb in der nächsten Nacht lautlos.
    Christopher und Jumar jedoch wussten nichts von alledem. Sie folgten dem Weg, den man ihnen flüsternd gewiesen hatte, aus dem Dorf, den Hang hinauf in endlosen Serpentinen. Neben dem Brunnen hatte kein Toter mehr gelegen – das Tageslicht hatte alles verwandelt.
    »Vielleicht haben wir ihn uns nur eingebildet«, sagte Jumar.
    Der Wald wurde lichter, die Bäume änderten ihre Gestalt. Die Höhe griff mit schlanken Fingern nach den Wanderern. Jetzt standen Nadelhölzer am Weg, und Christopher fühlte sich merkwürdig an die Alpen erinnert. Früher waren sie alle zusammen dort gewandert, seine Eltern und Arne und er. Er entdeckte sogar Enzian im schütteren Gras.
    Dann durchquerten sie wieder Täler voller Urwaldschatten, und einen Tag später merkte Christopher bei einer Pause, dass seine Schuhe feucht waren. Er wunderte sich, denn sie waren lange nicht mehr durch irgendwelche Flüsse gewatet, doch dann stellte er fest, dass es Blut war, das seine Schuhe durchnässte, und er schrie entsetzt auf. Etwas wand sich an seinen Füßen, dicke, dunkle Körper wie von kleinen Nacktschnecken –
    Jumar warf einen unsichtbaren Blick auf Christophers Füße.
    »Blutegel«, stellte er fest. »Intere-"
    »Sag es nicht«, drohte

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